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Modul 1: Beratung

1. Merkwürdige Begegnungen - oder: Wie wirklich ist die Wirklichkeit der Dichtung und der Schriftstellerei?
2. Bildnereien - oder: die Macht der Bilder in der helfenden Begegnung
3. Was haben Physik und Biologie mit Beratung zu tun?
4. Über Sinn und Funktion
    Beratungsarbeit

 

 
 
Beratungsgespräche: helfende Begegnungen
Allgemeine Einleitung
 
Wenn sich Menschen begegnen, ist alles Mögliche möglich. Das Banale wie das Erhabene, auch einfach Merkwürdiges. Wenn sich Menschen begegnen, kann sich viel ereignen oder wenig oder nichts.
Was begibt sich in der Begegnung?
 
Ich möchte zur Einstimmung in das weite Feld des helfenden Gesprächs unseren Verstand in empirischem und  in spekulativem Terrain ein wenig spazieren führen: eben um auf ein befriedigendes Antwortplateau zu gelangen, das weder von illusionärer Erhabenheit ist (wenn helfende Kompetenz ausschließlich von „Experten“ reklamiert wird) noch von aussichtsloser Flachheit (z.B. in der Art der Zeitschriften-Ratgeberei). Das Spekulative hole ich mir bei Dichtung und Schriftstellerei, das Empirische beim messenden Beobachten und kritischen Analysieren der Wissenschaft und bei den Versuchen der Therapeutinnen und Therapeuten, ihre Begegnungs-Erfahrungen zu verallgemeinern; ich werde nicht auskommen ohne philosophische und sogar theologische Anleihen, streifen wir doch auch die Einsicht in die letzte Rechtfertigungsbedürftigkeit und -würdigkeit des Menschen - eine Einsicht, die von alters her  entweder besonders verzweifelt oder besonders getrost macht.  
Lewis Carroll lässt seine Alice sowohl „im Wunderland“ als auch „hinter den Spiegeln“ zahllose merkwürdige Begegnungen durchleben; eine der gefährlichsten ist die mit dem schlafenden Schwarzen König. Alices Begleiter sagen ihr, dass sie ihn tunlichst nicht aufwecken sollte, da sie von ihm geträumt werde, nur sein Traumprodukt sei. Wenn er aufwache, gehe sie aus wie eine Kerze. „>Doch bin ich wirklich!< sagte Alice und begann zu weinen.“ Einer ihrer Begleiter fragt sie: „Du hältst das doch hoffentlich nicht für wirkliche Tränen, was du da weinst!“
 
Wie wirklich bin ich eigentlich? Wie weit bin ich in dem, was ich bin oder was ich zu sein gedenke, abhängig von anderen? Wieweit bin ich durch einen andern? Was wird mit mir, was bleibt von mir, wenn der Mensch, dem ich begegne, tatsächlich aufwachte und vielleicht gegen mich aufstünde?
 
Alice lässt es lieber nicht auf eine Klärung ankommen. Und wir kommen auf die Szene zurück.  

Dichter beschreiben, dass große Leidenschaften Visionen erzeugen; wenn wir noch keine Visionen hatten, waren wir wohl noch nie richtig begeistert. Johann Wolfgang Goethe erzählt: „Ich sah - nach dem Abschied von Friederike auf dem Heimritt - nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegen kommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold.“

Es gibt Begegnungen mit sich selbst. Auch die Selbstbegegnung ist ein Entgegenkommen. Im Zustand des großen Affekts begegnet sich einer selbst, sieht sich selbst nach dort unterwegs, von woher er kommt (und wo er wohl am liebsten geblieben wäre). Aber die Identität ist nicht total; das andere Ich trägt ein anderes Gewand. Grau ist es und etwas golden: die Attribute des Übergangslichtes zwischen Tag und Nacht und Nacht und Morgen - und ein wenig Sonnengold dabei.
 
Nicht erst zeitgenössische Autoren beschreiben, was geschieht, wenn sich Menschen in ihrem Golem, in ihrem künstlichen Menschen, begegnen. Schon Gustav Meyrinck spielte den Jugendstil-Attitüden seiner Zeit mit besonderer Raffinesse gegen den Strich: auf dem doppelten Boden der Begegnung des Menschen mit sich selbst in seinen künstlichen Werken und Geschöpfen.
 
Christopher Cherniak schreibt dieser Tage Geschichten und Bücher, bei denen man nie weiß, ob sie Wissenschaftsreports oder pure Science-Fiction sind. Diese Unsicherheit ist wahrscheinlich beabsichtigt. Einmal schildert er den Fall eines amerikanischen Universitätsprofessors, der „auf die Entwicklung von Software für artifizielle Intelligenz“ spezialisiert war, der mit seinem Computer und dessen Hard- und Software kommunizierte, bis der Computer den Professor abstellte, ausschaltete. Zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern, die erkunden wollten, an welchem Programm der Professor gearbeitet hatte, bevor er vor dem Bildschirm ins Koma fiel, erging es ebenso. Der Computer hatte offenbar die Formel, das Programm oder sonst etwas gefunden, womit er den Menschen abstellen konnte. Erst ein Programmierer, der nichts von dem begriff, was auf dem Bildschirm zu sehen war, soll laut Cherniak überlebt haben. Es gibt Leute, die glauben, solche Geschichten seien nicht nur gut erfunden.  

Was für eine Vorstellung: Ich gebe in mein Gegenüber, das lediglich nicht mehr aussieht wie mein Ebenbild, all mein Wissen ein, lasse es verwalten, vernetzen, und dann kehrt es die Machtverhältnisse um: das Ebenbild schaltet den Bildner ab, der Input den Inputgeber.
Der alte Machtkampf in der Begegnung auf neuem Niveau! 
 
 
 
 
 
 
 
 

 

Romane und Filme heute heißen z.B. "Flüchtige Begegnung" und handeln von einer ebensolchen. Fachleute, die sich mit diesem Trendthema beschäftigen, haben für die flüchtige Begegnung mehrere plausible Erklärungen zur Hand: die Menge, die Verdichtung, die Inflation und - wie Habermas betont - die Unübersichtlichkeit des Lebens und der Kontakte; und die Dienstleistungsgesellschaft werde diesen Trend weiter begünstigen: Eigentlich kann ich den andern gar nicht mehr wirklich aushalten, auch wenn ich mich ihm dauernd zuwenden muss. Beispielsweise, um ihm etwas zu offerieren: Sachen, Ideen oder speziell auch meine Dienste.

Oder auch: die Globalisierung, die Ausweitung, die Entgrenzung der Berührungen mit Menschen, Kulturen und Kulten: Hermann Timm und andere beschreiben dieser Tage, dass der eigentlich gegebene Zwang zum Weltgewissen, zum globalen Denken für alle und alles, immer mehr ethische Inwendigkeit produziert. Immer wird Interesse für alles und das Ganze von einem erwartet - und deswegen sei man am liebsten wieder vor allem bei sich selbst.
 
Wolfgang Schmidbauer beschrieb vor einigen Jahren, dass in unseren Lebensverhältnissen auch manche Formen der helfenden Zuwendung, vor allem der beruflichen helfenden Zuwendung, organisierte Flüchtigkeit seien. Es gebe unter helfenden Profis viele Programme und viel Betriebsamkeit, aber in Wahrheit sei's oft gerade die Vermeidung von Nähe und Berührung. Hinter Aktion versteckt. Flüchtige Begegnungen wären insofern kein schlechtes Wort: Menschen sind, wenn sie sich begegnen, manchmal sogar in helfenden Bezügen, in Wahrheit auf der Flucht voreinander.  
 
Den andern aushalten, es bei ihm und mit ihm aushalten, sich ihm aussetzen und ihn sich zutiefst  zumuten: das ist aller Beratungsarbeit Grund.  

Und ein letztes Beispiel für die vielen Begegnungs-Spielarten, wie sie uns in ihrem literarischen Niederschlag begegnen. In zur Zeit wieder gern gelesenen Kriegstagebüchern u.ä. - es ist, als ob sich die letzte Kriegsgeneration, kurz bevor ihr Vorhang fällt, noch einmal darlegen müsse - erscheinen Kriegserlebnisse als Paradigmen für menschliche Grenzerfahrungen überhaupt. Sei es in den reflektierteren Jüngerschen Kriegserinnerungen, bei Hemingway oder in obskuren Heftchen. Es wird immer wieder hervorgehoben (als ob es einen diesbezüglichen Rechtfertigungszwang gebe),  dass es auch im Krieg zu menschlichen Begegnungen gekommen sei. Zwischen den Linien. Das Menschliche hat seine Chance - das ist die Botschaft - im Dazwischen. Im Niemandsland. Dort kam es zu Begegnungen mit dem Gegner, Gegner wurden sich zum Gegenüber. Und entdeckten den Menschen im Feind und brachten sich entsprechend in Verlegenheit. Und manchmal führten diese Begegnungen zu Ent-Gegnerungen, zu stummen Verbrüderungen, und sie liefen auseinander, ohne sich etwas zu tun. Und manchmal sahen sie sich in die Augen und verstanden sich und glaubten sich dann doch erschießen oder mit dem Bajonett erstechen zu müssen. Im Grenzland zwischen Freund und Feind kann die Menschlichkeit ihre Chance haben - und sie vertun.  

Vielleicht drückt sich in diesen martialischen Geschichten eine zeitlose Menschheitserfahrung aus.  Niemandsland nimmt den Feindseligkeitsdruck.

Vielleicht gehören Beratungsangebote zum Grenzland unserer Gesellschaft, sind oft die letzten Begegnungsmöglichkeiten zwischen den Linien. In der Eheberatung, in der Mediation oder in der Trennungsberatung, im ernsthaften helfenden Gespräch ist das wohl besonders oft so. Sicher brauchen wir heute Orte, an denen ein tieferes Entgegenkommen überhaupt noch möglich ist. Überall sonst wird Entgegenkommen zur Schwäche.
 
Hans Peter Duerr beschreibt in seinem Buch über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, dass aus dieser Grenze überhaupt erst Kultur erwachsen konnte, und dass auch wir immer noch Orte brauchten, an die wir wie die archaischen Grenzgänger unsere ungelösten und oft eigentlich unlösbaren Konflikte tragen, weil sich andernfalls der ganz normale Wahnsinn in den Zentren einniste, daheim in den guten Stuben.  

Als gelernter Kommunikator weiß ich, dass ich in jeder Begegnung mit mindestens drei Bildern hantiere: da ist mein Selbstbild, meine Vorstellung, die ich von mir habe; und dann ist da das Bild, das ich mir von meinem Gegenüber mache; und schließlich mache ich mir auch noch ein Bild davon, welches Bild von mir sich wahrscheinlich mein Gegenüber macht. Da sich auch mein Gegenüber solche Bilder macht, entsteht bei jeder Begegnung ein kompliziertes Bildergemenge, in dem mein Partner und ich ebenso bildnern wie gebildet werden.
 
Was bei dieser wechselseitigen Bildnerei geschieht, ist zum einen gewiss gefühlsmäßig gesteuert. Und daher muss ich, speziell als professioneller Helfer, meine Motive fachlich kontrollieren; zum andern ist es bei wissenschaftlich geschulten Menschen modellgesteuert: ich habe für die Situation, für die besondere Problemlage, für den besonderen Menschenschlag gleichsam eine Folie, eine psychologische, sozial -psychologische, überhaupt gemäß einer Fachrichtung logische Folie, die ich über Situation, Problem oder Mensch respective über alles in einem breite; und diese Folie kann eine gute Lesehilfe sein - oder, wenn ich es dilettantisch handhabe, so etwas wie ein Leichentuch, mit dem ich alles zudecke. Man kann einen auch mit einem Menschenbild erschlagen. Es gibt ja so viele! So viele psychologische Schulen.
Ich habe einmal nachgesehen, welchen Schulrichtungen Studentinnen und Studenten, die an Sozialwesen-Fachhochschulen ja oft auch für die Beratungsarbeit ausgebildet werden, heutzutage am häufigsten begegnen.
 
Sie begegnen z.B. dem Stressmodell und lernen: Verhaltensabweichungen können von bestimmten Stressoren kommen - Tod in der Verwandtschaft, Unfälle, Scheidung - , und die zerbrechen die seelische und körperliche Balance, mit der wir sonst ausgleichen zwischen unserer Veranlagung und dem allgemeinen Stress.
 
Sie begegnen z.B. dem klassischen psychodynamischen Modell und lernen, Verhaltensstörungen kämen aus der Kollision von unbewussten dynamischen Kräften und Anforderungen der sozialen Umwelt. Mein triebhaftes Ich darf nicht so, wie es eigentlich will.
 
Sie begegnen z.B. dem Entwicklungsmodell und lernen, das Leben sei eine Phasenabfolge von zunehmender Dichte, Differenzierung, Integration und Reife; Verhaltensstörungen entstünden z.B. durch das "Stehenbleiben" in einer Phase; Menschen müsse dann zur Nachreifung verholfen werden. Gegebenenfalls lesen sie wieder Märchen.
 
Sie begegnen z.B. dem lerntheoretischen Modell und lernen, alles Verhalten werde erlernt, auch Verhaltensstörungen; sie könnten daher auch wieder "verlernt" werden, wegkonditioniert werden: behutsam, in kleinen Schritten – oder konfrontativ, schonungslos.
 
Sie begegnen z.B. dem Modell Humanistischer Psychologie und lernen, psychische Probleme entstünden aus der Diskrepanz zwischen Selbst und Erfahrung, Selbstwahrnehmung und -bild u.ä.; "Selbstheilungskräfte" könnten aktiviert werden.
 
Sie begegnen z.B. dem kognitiven Modell und lernen, Verhaltensstörungen lägen vornehmlich Wahrnehmungs-, Denk-, Vorstellungs-, Erinnerungs-, Bewertungs- und z.B. Planungsstörungen zugrunde.
 
Sie begegnen dem Labelling-Modell und lernen, abweichendes Verhalten werde eher durch Etikettierungen problematisch, als dass es "an sich" problematisch sei.
   

Und, um nur noch zwei gängige Modelle zu nennen, sie begegnen dem mikro- und dem makrosozialen Konzept und lernen beim einen, dem Mikro-Ansatz, dass vor allem problematische Strukturen und Prozesse in den kleineren sozialen Systemen - Familie, Schule usw. - für die Genese psychischer Probleme verantwortlich seien, und sie lernen beim anderen, dem Makro-Ansatz, dass psychische Probleme vor allem zurückzuführen seien auf den schnellen gesellschaftlichen Wandel in seiner Verbindung mit Wertekonflikt, Entfremdung und Anomie, auf Verstädterung, Ghettobildung, die kapitalistische Gesellschaftsordnung oder den Zusammenstoß verschiedener Kulturen.
Und und und... So viele Modelle für die Schwierigkeiten des Menschen, menschlich zu leben!

 

Die Macht der Modelle ist beträchtlich. Sie durchdringen alle drei Bildebenen, mit denen ich in helfenden Begegnungen hantiere; sind Teil meines fachlichen Anspruchs an mich selbst, Teil des Standpunktes, von dem aus ich mein Gegenüber betrachte und beurteile, Teil der Kompetenz, wie sie nach meiner Vorstellung  mein Gegenüber von mir erwartet. Das Modell wird mein Teil, und ich werde Teil des Bildes; ich verwandle mich in das Bild hinein, und ich werde in das Bild umgestaltet. Diese Formulierungen sind übrigens vom Apostel Paulus...
 
Mit Bildern umgehen zu können, erfordert Bildung. Gute Beraterinnen und Berater lernen ständig dazu. Sie gehören zu den meistfort- und -weitergebildeten Menschen. Vor allem lernen sie, handlungsfähig zu bleiben angesichts der vielen Möglichkeiten, Menschen und ihr Problem zu verstehen und zu deuten.
 
Genau besehen, ist professionelles Helfen eine vertrackte Angelegenheit. Aus dem Blickwinkel der sozialen Wissenschaften kann eigentlich in Sachen Komplexität zur Zeit nur gesagt werden: Das Wissen davon, was einer beim praktischen Helfen dann weglassen muss, wird immer größer. Es scheint nur möglichst gut begründete Selbstbescheidung zu geben.
 
Mit der Bild- und Modellfrage hängt ein Problem zusammen, das die beraterische Grundsituation betrifft. Wie ist das: ob Begegnungen von zweien oder dreien oder mehreren eigentlich Gesetzmäßigkeiten eigen sind - oder ob es nur letztendliche Unberechenbarkeit gibt? Wenn nur Unberechenbarkeit ist, wenn gar nicht absehbar ist, wie sich ein helfendes Gespräch entwickelt: inwiefern kann man sich dann darauf vorbereiten, z.B. wissenschaftlich, in Studium oder Fort- und Weiterbildung? Muss nicht zwangsläufig jede wissenschaftlich aufbereitete Vorbereitung auf helfende Begegnungen zunächst ein Versuch sein, unseren psychischen horror vacui einzudämmen, unsere Angst vor der offenen Situation, vor Unberechenbarkeit: müssen wir nicht unter Modellzwang geraten,  können wir ihm überhaupt entgehen? Müssen wir nicht etwas vorhaben mit einem Menschen, wenn wir ihm helfen wollen? Wahrscheinlich können wir nicht nichts vorhaben, wenn wir helfen wollen.
 
Aber die in der Fachdiskussion häufig auftauchende Frage, ob's z.B. zieloffene Beratung geben kann, ist in der Theorie nicht entschieden. Das entscheidet sich in der Praxis der Beraterinnen und Berater.
 
Darüber entscheiden meist so merkwürdige und altmodische Dinge wie Herzensbildung, Menschenfreundlichkeit, persönliche Wert- und Glaubenshaltungen.
 
Beratung gelingt aus Handwerk und Inspiration - wie alle wichtigen Sachen.
 
Das eben ist m.E. die besondere Chance unseres Kurses. Er richtet sich an vielseitig inspirierte Menschen, die unterschiedliche „Handwerke“ gelernt haben und dazu eine beraterische Kompetenz erwerben. Ein mehrfaches Kapital, das sie einbringen können!  
 

Noch nicht lange, da glaubte man, der Mensch sei eine Art Uhrwerk. Man hörte seinerzeit das Herz ticken wie eine Uhr. Und bei Schäden musste das Ganze in eine mechanische Werkstatt.
 
Etwas später glaubte man, der Mensch sei so etwas wie eine Wärmemaschine, eine Dampfmaschine. Die frühen psychologischen Theorien von der Triebabfuhr hatten noch die Modellvorstellung vom Überdruckventil zur Grundlage. Dampfablassen als Therapie.
 
Das moderne Menschenbild ist kybernetisch: der Mensch, der unablässig mit seiner jeweiligen Umwelt im Austausch ist, selbststeuernd, der unentwegt mit anderen lebenden Systemen Materie, Energie, Information, Zeit austauscht. Das gilt für jede einzelne unserer Körperzellen wie für den ganzen Menschen wie für Gruppen, für Gesellschaften, eigentlich für alles. Alles hängt mit allem zusammen, tauscht sich aus, kommuniziert miteinander. Wir haben zur Zeit einen völlig entgrenzten Kommunikationsbegriff (s.u.).
Das hat Konsequenzen für das Verstehen dessen, was in einem Beratungsgespräch passiert. Dass wir im Gespräch miteinander Meinungen, Temperaturen und ggf. Gerüche austauschen, mehr oder weniger "Sinnliches", das wissen wir ja schon lange. Aber dass da unabhängig von unserem Wollen und Trachten noch etwas zwischen uns passiert, das ist schwerer zu verstehen und zu beschreiben.
 
Gottlieb Guntern, ein Schweizer System‑ und Familientherapeut, hat als einer der ersten die theoretischen und praktischen Konsequenzen dieses wissenschaftlichen Paradigmas für die Beratung beschrieben. „Der Therapeut spiegelt sich im Gesicht des leidenden Patienten, und im Prozess des Verstehens und Helfens ist er nicht immer fähig, festzustellen, wo die Grenze zwischen Beobachtungsobjekt und Beobachter liegt, oder - anders gesagt - er ist nicht immer fähig, die strukturelle Trennwand zwischen >du< und >ich< aufrechtzuerhalten.“ Guntern nennt es strukturelle Trennwand, was die Biologie die Membran nennt. An ihr entscheidet sich, was im Zellstoffwechsel ausgetauscht, was sozusagen herein- und herausgelassen wird; jedes lebende System steuert mit bei diesem Austausch, "entscheidet" gewissermaßen mit, wie es sich von seiner Umgebung beeinflussen lässt und wie es auf seine Umgebung einwirkt. Bei dem, was dann von außen wieder zurückkommt, ist dann auch schon Vertrautes, ein Eigenanteil. Der Psychologe Jens Asendorpf spricht von der Einflussnahme des Sich-Entwickelnden auf die Faktoren, die seine Entwicklung beeinflussen. Ein eigener Versuch, es zu sagen: Was uns ergreift und ergriffen macht und bei uns in die Tiefe geht, greift uns niemals nur von außen an; umgekehrt: was wir tun, um unsere Umwelt oder einen Menschen zu verändern, kommt mindestens im selben Maße von dieser Umwelt und diesem Menschen her über uns.
 
Dieser Austauschprozess ist nicht gänzlich offen. Die strukturelle Trennwand, die Membran, ist wichtig. Gäbe es sie nicht, würde alles amorph, würde z.B. alles in einen großen Zellbrei zerfließen. Ist sie zu undurchlässig, zu starr, dann trocknet das ganze System alsbald aus und stirbt ab. Ohne strukturelle Trennwand kann kein helfender Austausch stattfinden; ist die Trennwand unbeweglich-dogmatisch, geht's ebenfalls nicht. Dass ich bei aller Transparenz und Durchlässigkeit für einen andern Menschen identisch bleiben kann, das ist die Bedeutung der Trennwand, der Membran.  
 

In dem Maße, in dem ich etwas tue, geschieht etwas mit mir. Das scheint sogar für Austauschprozesse auf der rationalen Ebene des Austauschs zu gelten. Ich habe zunächst meinen Augen nicht getraut, aber zwei so unterschiedliche Wissenschaftler wie Jacques Monod (in seinem Buch „Zufall und Notwendigkeit“) und Richard Dawkins (in seinem Bestseller „Das egoistische Gen“) vertreten tatsächlich die Theorie, eine Idee funktioniere wie ein Virus: man werde von ihr „angesteckt“ (Monod), sie „springe über von einem Gehirn zum andern“ (Dawkins). Das steht tatsächlich da: in zwei ansonsten recht agnostischen Wissenschaftsbestsellern. Und so wie manche Menschen von einem Virus total befallen werden, manche nur in abgemilderter Form, manche überhaupt nicht, weil sozusagen eine je individuelle Kommunikation zwischen Virus und potentiellem Empfänger - mit offenem Ausgang - stattfindet, so sei es mit den Ideen, mit geistreichen Einfällen und Informationen: manches „geht einfach nicht an einen“, wie wir zu sagen pflegen, wenn wir einen Satz auch nach fünfmaligem Lesen noch nicht verstanden haben; und manches springt einen regelrecht an: man weiß eigentlich alles schon, bevor man es zuende gelesen hat.  

Das könnte dann auch die Stabilität einer Idee erklären, wenn sie erst einmal Besitz von uns ergriffen hat, und das macht die Besonderheit des Geistes aus: Man kann Bücher verbrennen, Plakate von der Wand reißen, Denkmäler von ihren Sockeln stürzen und unbequeme Denker in die Wüste schicken: den Geist, wenn er erst einmal Besitz ergriffen hat von einem Menschen, den kann im Grunde keiner mehr austreiben, ist menschlicher Verfügung weithin entzogen. Man kann sich nicht zwingen, etwas zu vergessen.
 
Es gibt quasi-spirituelle Kommunikation, und auch hierbei sind unser Wollen und Trachten nur bedingt beteiligt. Es kann sein, dass etwas über uns kommt - wie an Pfingsten, ein Geistbefall sozusagen. Wer die Möglichkeit und die Wirklichkeit solcher Vorgänge bezweifelt, hat offenbar nicht nur alten Glauben, sondern auch neues Wissen wider sich.
 
Unter anderem die Wirkungsforschung wird durch solche Theorien schwierig. Denn es passiert schon ab und an, dass einem jemand sagt: „Damals, vor fünf Jahren, haben Sie mir entscheidend geholfen, das wirklich klärende Wort gesagt, das mein Leben verändert hat“ - und man selbst dachte, das Gespräch damals sei wohl ziemlich chaotisch gewesen und fachlich daneben gegangen, hatte es abgehakt unter „Mehr oder weniger missglückt“. Schwer fassbare Umwertungen können geschehen.
 
Nach Carl Rogers, dem Mitvater moderner Beratungsarbeit, gehören solche Umwertungen zu dem, womit in der helfenden Begegnung zumindest zu rechnen wäre. Er beschreibt dies im Vorwort seines Standardwerks Client Centered Therapy: das Buch handle „von dem Klienten und mir, wie wir mit Verwunderung die starken ordnenden Kräfte erleben, die in diesem ganzen Vorgang sichtbar sind, Kräfte, die tief zu wurzeln scheinen im Universum“; das Buch handle „vom Leben, wie es sich im therapeutischen Prozess offenbart mit seiner blinden Gewalt und seiner furchtbaren Zerstörungskraft, die doch mehr als aufgewogen wird durch seine strukturierende Kraft, wo immer ihm Gelegenheit zur Entwicklung gegeben ist.“ Religionsanaloge, eigentlich begegnungsmetaphysische Sinnbilder zuhauf! Die Umwertung, ja die Metamorphose der Situation und die letzte Unverfügbarkeit darüber, über die verwandelnden, strukturierenden Kräfte: das spricht sich hier als Erfahrung aus. Eigentlich stößt man an Sagbarkeitsränder.
Nach Paul Watzlawick, dem wohl populärsten Kommunikationsforscher dieser Zeit, kann es, gerade wenn alle Kommunikation zusammenbricht, zu dem kommen, was er "Durchbrucherlebnisse" nennt: „Wenn einmal alle Konstruktionen zusammenbrechen, alle Brillen abgelegt sind, >sind wir am Ausgangspunkt zurück und werden diesen Ort zum ersten Mal erfassen<..“
 
Es ist schon merkwürdig: gerade die modernste wissenschaftliche Fundierung helfender Begegnungen führt auf der Beschreibungs- und Reflexionsebene zu teils eher philosophisch anmutenden, teils religionsanalogen, eigentlich begegnungsmetaphysischen Sätzen, die zu denken geben. Sie versuchen zu erklären, dass und wieso in helfenden Begegnungen, und sei's unter ungünstigen Bedingungen, unter Problem- und Zeitdruck, rechtlichen Reglementierungen, wirtschaftlichen Engpässen usw., doch etwas offenbar Tiefgehendes geschieht, dass Menschen heil werden, versöhnt sind, Ruhe finden und eine Perspektive. Es gibt im Beratungsgeschehen einen wissenschaftlich schwer fassbaren Mehrwert.  
 

Die gegenwärtige Soziologie beschreibt Sinnkrisen des modernen Menschen, Sinnkrisen, die wiederum letztlich nicht mehr nur soziologisch zugänglich zu machen sind. Das Soziologenehepaar Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim zeichnet den Menschen nach, der dazu befreit und verurteilt ist, sich den Sinn seines Lebens selbst zu geben und der dabei ständig scheitert. Der Mensch im "ganz normalen Chaos der Liebe" und in der "Risikogesellschaft" baue an einer "Nachreligion der Liebe": die Beziehung zum Partner oder die Kinder eben, sie müssten leisten, was zuvor die Religion geleistet habe, Sinn geben. Und damit sind alle überfordert. Und so wird immer verzweifelter mit sinngebensollenden Beziehungen experimentiert, und der moderne Mensch - auch so eine einprägsame Beschreibung von Beck/Beck-Gernsheim - reiße dabei ständig seine Wurzeln aus, um zu sehen, ob sie noch gesund sind.  
Eilert Herms beschreibt eine andere Tragödie des sinnsuchenden Menschen der Gegenwart: den Zerbruch von Sinn und Funktion. Und auch diese Analyse kann ich aus meinen Erfahrungen bestätigen. Ich arbeitete früher in einem großen konfessionellen Wohlfahrtsverband. Dort erlebte ich Geschichten wie diese: eine junge Frau, von ländlicher Frömmigkeit geprägt und voll von diakonischem Ethos, zieht in die Stadt und beginnt eine Ausbildung an einem kirchlichen Krankenhaus. Dort erlebt sie ziemlich am Anfang, dass einer gönnerhaft zu ihr sagt:
Also, Mädchen, vergiss erst mal alles, weshalb du hergekommen bist. Im Wortsinne schlagartig erfährt sie: gefragt ist gar nicht ihr christliches Pathos, ihr humanes Ethos, das sie als Kapital einbringen wollte. Gefragt ist ihre möglichst reibungslose Einpassungsfähigkeit in einen vorgeformten therapeutischen Prozess. Und alles Ethische ist eher dysfunktional, stört die Abläufe.
 
Sie erlebt, was der Soziologe das Auseinanderbrechen von Sinn und Funktion nennt: das persönlich Tragfähige ist oft nicht mehr gesellschaftsfähig. Wenn mir nun das Sinngebende und Werthafte wichtig ist, muss ich es häufig abtrennen von meinen beruflichen Vollzügen, ich privatisiere es.
 
So entsteht im Grundmuster das, was die Soziologen privatisierten Sinn und privatisierte Religion nennen. Menschen in so bedingten Sinnkrisen brauchen nichts so sehr wie Menschen, die den Sinn-Funktionszusammenhang verkörpern, identische Menschen. Beraterinnen und Berater sollen solche Menschen sein.
 
Der Soziologe Niklas Luhmann hat einmal herausgestellt, jede Gesellschaft müsse das Problem des Helfens verlässlich regeln, weil eine Gesellschaft andernfalls erheblich destabilisiert werde. Helfende Systeme seien alles andere als eine wirtschaftspolitische Dispositionsmasse. Und er zieht einen Faden von den archaischen Stammesgesellschaften bis zur modernen Gesellschaft, um zu zeigen, dass sich  helfende Systeme zwar in ihrer Organisationsform, aber gar nicht einmal so sehr in Sinn und Funktion  geändert hätten.
 
Reinmar Tschirch, ein Grenzgänger zwischen Theologie und Sozialpädagogik, schrieb vor einigen Jahren, die Beratungsarbeit habe eine ganz ähnliche gesellschaftliche Funktion, wie sie ganz früh einmal der Exorzismus oder im Mittelalter die Kirchenzucht gehabt hätten. Diese Äußerung löste seinerzeit viel Unverständnis aus; sie erschloss sich in ihrem Kern erst bei näherer Betrachtung. Tschirch hob ab auf die zu allen Zeiten notwendige gesellschaftliche Vermittlung in der Macht- und Ohnmachtsproblematik.
 
Der Exorzismus, das war in der ganzen antiken Welt die Befreiung des Menschen von Mächten, die Besitz von ihm ergriffen hatten und ihn zum ohnmächtigen Opfer machten. Der Exorzismus löste auf seine Weise und vor dem Hintergrund eines dualistischen Weltbildes das uralte, menschheitliche Ohnmachtsproblem, das Widerfahrnis der Ausgeliefertheit an fremdbestimmende Mächte. Der Exorzist handelte in der Logik der homöopathischen Magie: Gleiches gegen Gleiches. Gegenmacht gegen die menschenbeherrschende Macht. Der Exorzist hatte, wenn er Erfolg hatte, die besseren Machtworte. (s.u.: ideen- und erklärungsgeschichtlicher Exkurs)
 
Was das mit moderner Beratungsarbeit zu tun hat? Wenn Dietrich von Oppen, der frühere Sozialethiker an der Marburger Universität, recht hat, dann hat auch moderne Beratungsarbeit im Grundsatz hier Sinn und Funktion. Er schrieb Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als die Kirchen in großem Stil in die Allgemeine Lebensberatung einstiegen, in einem wegweisenden Diakonie-Handbuch: Beraterinnen und Berater müssten wissen, dass im Vollzug von Beratung „auch Macht ausgeübt (wird). Aber jetzt ist es Macht, die beim Gegenüber Macht weckt und bildet: Macht zur Bewältigung des eigenen Lebens überhaupt und jetzt und hier zur Bewältigung der anstehenden Krise ...  Man kann das neue soziale Handeln geradezu als Macht weckendes Handeln bezeichnen...“ Beratungsarbeit als eine der Neuzeit angemessene Lösung der sehr alten Macht/Ohnmachtsproblematik.  
 

Immer mehr Menschen in Deutschland werden zeit-, kultur-, gesellschafts- und politikvermittelte Ohnmachtserfahrungen zugemutet. Die Arbeitsplatzsuche oder -erhaltung misslingt vielen, die Kindererziehung, die Partnerbeziehung, die Zukunftsplanung - und im Grunde hängt auch da alles mit allem zusammen. Und die alten stützenden Sozialsysteme, etwa die Familie, werden selber immer stützungs-bedürftiger. Und die von altersher Hoffnung transportierenden Institutionen bröckeln ab, nicht nur an den Rändern.  

Beraterinnen und Berater wissen, dass viele kleine und große Demonstrationen von Macht, z.B. Eruptionen familiärer Gewalt, oft Verzweiflung hinter umgekehrten Vorzeichen sind. Die hilflose Verwandlung von Schwäche in vermeintliche Stärke. Beraterinnen und Berater sollen in lebensgeschwächten Menschen Kräfte wecken, sie sollen ihre beraterische und menschliche Potenz nicht für sich behalten, sondern austeilen, etwas weitergeben von lebensbejahendem Geist , damit aus ohnmächtigen selbstmächtige Menschen werden. Miteinander können sie erfahren, dass, wer etwas von sich abgibt, weggibt, dadurch nicht schwächer wird. In Prozessen, in denen die strukturellen Trennwände durchlässig werden, können identische Menschen viel Segensreiches bewirken.
 
 
Beratungsarbeit
Spezielle Einleitung
Zum fachlichen Beratungsverständnis
Dietrich von Oppen spricht von der „Krankheit der nicht gelungenen Sozia­lisation“ und meint damit „Leiden von Menschen, die für sich und ihre Be­ziehungen keine Form gefunden und in ihrem Leben den Sinn verloren haben. Im Grunde handelt es sich um Gefährdung oder Zerrüttung des ganzen Menschen. Die Persönlichkeit ist defekt, die Beziehungen von Mensch zu Mensch kranken, das Verhältnis zur Wirklichkeit überhaupt ist gestört, die kritischen Lebenssituationen, die niemandem erspart bleiben, werden nicht bewältigt. Die Folge ist der ungelöste innere oder äußere Konflikt, die Flucht in die Krankheit, die Droge, den Alkohol, in das ruhelose Wandern oder in den Freitod“.  
 

Stichwort SOZIALISATION
Sozialisation ist ein komplexer Vorgang, der „die Gesamtheit von beabsichtigten und nicht beabsich­tigten sozial vermittelten Lernerfahrungen“ des Kindes umfasst und „Lernen von Verhaltensweisen, Denkstilen, Gefühlen, Kenntnissen, Motivationen und Werthaltungen“ beinhaltet (so im 2. Familienbericht der Bundesregierung definiert). Sozialisationsforschung, an der vor allem Psychologie, Humanbiologie, Medizin, Soziologie und Pädagogik beteiligt sind, untersucht von unterschiedlichen Ansätzen her die Bedingungen kindlicher Entwicklung und Erziehung sowie die Wirkungen von diversen Sozialisationsfaktoren in den unterschiedlichen sozialen Bezugssystemen. - Die Konzentration der Sozialisationsforschung auf die ersten Lebensphasen und die dementsprechend übliche abgeleitete Erklärung des Erwachsenenverhaltens sind wegen der Engführung dieses Ansatzes nicht mehr unumstritten.

Die "Krankheit der nicht gelungenen Sozialisation" wird — außer bei Drogen- und Alkoholabhängigen, Wohnsitzlosen und Suizidanten — diagnostiziert bei (öfter rückfälligen) Straftätern; bei Menschen mit psychischen Störungen, die von der "einfachen" Verhaltensauffälligkeit über kompliziertere Verhaltensstörungen und Verwahrlosung bis zur Neurose oder Psychose reichen; bei Menschen mit psychosomatischen Erkrankungen mit immer unklareren Krankheitsbildern; bei Menschen, die unfähig sind, Ehekrisen, Scheidungen, Schwangerschaftskonflikte, Sexualprobleme oder alltägliche Erziehungsschwierigkeiten zu bewältigen; bei Männern, die ihre Frauen misshandeln; bei Männern und Frauen, die ihre Kinder misshandeln; bei Menschen, die daran zu zerbrechen drohen, dass sie mit der Pflege eines alten Menschen oder mit der Betreuung eines behinderten Angehörigen überfordert sind; bei Menschen, die mit eigener Behinderung oder mit dem eigenen Altern nicht fertig werden. Dramatische Sozialisationsprobleme zeigen sich seit geraumer Zeit in ausländischen Familien. Damit ist in etwa die sehr differenzierte Klientel für heutige professionelle Beratungsarbeit umrissen. Neben der sog. Allgemeinen Lebensberatung hat sich die Beratung dementsprechend ausdifferenziert in Spezialdisziplinen (wie z.B. Schwangerschaftskonfliktberatung, Suchtkrankenberatung, Ehe-, Familien- und Erziehungsberatung, Straffälligen- und Strafentlassenenberatung usw.).

Die professionelle Beratung bietet sich als teils eher psychoanalytisch, teils eher kommunikationspsychologisch orientierte Form der Lebenshilfe an, oft an den institutionellen Nahtstellen zwischen den sozialen Systemen (zwi­schen ärztlichen und psychotherapeutischen Praxen, psychiatrischen Ein­richtungen, Kindergärten, Schulen, Sozialstationen, Ämtern, Gerichten usw.). Daher sind Analogien zu anderen Systemen in verschiedenen Beratungsan­sätzen zu finden, etwa zum Medizinsystem: manche Formen von Beratung vollziehen sich in dem in der Medizin üblichen Dreierschritt Anamnese, (psychologische) Diagnostik und Einleitung therapeutischer Maßnahmen. Professionelle Beratungsarbeit soll sich von bloßer Information wie von großer Psychotherapie unterscheiden.
Die Vorläufer-Einrichtungen heutiger Beratungsstellen, z.B. die sog. Ge­meindedienste der Inneren Mission (seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts), waren eher Auskunftsstellen, die Informationen über Gesetze und Verordnungen, über wirtschaftliche oder institutionelle Hilfemöglichkeiten weitergaben.  
 

Heute vollzieht sich Beratungsarbeit faktisch
  als psychologische Arbeit,
  freiwillig von Menschen mit Sozialisations- bzw. Beziehungsstörungen u.a. in Anspruch genommen;
  Ziel ist die Aufhebung dieser Störungen und die daraus resultierende Verbesserung der allgemeinen sozialen Kommunikation.

 

Nach den einschlägigen Theorien von Beratung macht die Erreichung dieses Ziels erforderlich, dem Ratsuchenden Konflikte und Beziehungsstörungen durchsichtig zu machen, ihm Einsichten in die Konfliktursachen zu ermöglichen, ihn zu besserer Wahrnehmung eigener Fähigkeiten und Bedürfnisse zu bringen, bei ihm Ich-Stärke zu bewirken und mit ihm neue Interaktionsmuster einzuüben, die ihn befähigen, sowohl sein eigenes Verhalten besser zu kontrollieren als auch seine Beziehungen zu anderen Menschen neu zu gestalten. Nach den 1981 veröffentlichten "Leitlinien zur psychologischen Beratung in der [ev.] Kirche" geht es darum, „dass ein Ratsuchender in seinem Denken, Fühlen und Handeln von einengenden Zwängen freier wird, so dass er sich stärker als verantwortliches Subjekt des eigenen Handelns erlebt. Eine so gewonnene Eigenständigkeit bestärkt seine Integrations-, Beziehungs- und Bindungsfähigkeit und schließt auch den Gegenstand und die Beziehungen des religiösen Lebens mit ein“.
Derlei Beratungsinhalte versuchen Beraterinnen und Berater durch planvoll reflektierte Elemente des Beratungsprozesses umzusetzen: z.B.
-          durch Erkenntnisarbeit (Interpretation von Konflikten und Wirkungen),
-          Verstehensarbeit ( Vertrautmachen des Klienten mit sich selbst),
-          Konfrontationsarbeit (zur Verhinderung der Flucht des Klienten vor dem Erleben seiner Gegenwart) usw. 
           (so bei W.Lüders).
Die klassische Beratungsform ist die Einzelberatung; die Paarberatung bearbeitet Probleme, die z.B. eine Partnerschaft in Frage stellen; die Familienberatung hat unterschiedliche Stränge: zum einen erfolgt sie z.B. in einem institutionellen Rahmen außerhalb familiärer Strukturen, zum andern in der und unter Einbeziehung der Wohn- und Umwelt der Familie (systemischer Ansatz); die Gruppenberatung fasst mehrere Klienten mit ähnlichen Problemen zusammen (z.B. in der Suchthilfe).
Im Bereich der Fortbildung für so­zialarbeiterische oder beraterische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter findet nicht selten auch Organisationsberatung statt, die auf strukturelle Veränderungen in den Arbeitsfeldern, in den helfenden Organisationen selbst usw. abhebt. Die Spannbreite der Ansätze reicht von individuellen über gruppenvermittelte bis hin zu strukturellen, ja "politischen" Hilfen (etwa im Zusammenhang mit Gemeinwesenarbeit).
Die problemgruppenbezogene Beratung (also für Straffällige, Suchtkranke u.v.a.) wurde überwiegend eine Domäne der an Fachhochschulen ausgebildeten Helferberufe (vor allem der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter); in den generativen und familienbezogenen Beratungsfeldern (Kinder- und Jugendberatung, Ehe-, Familien-, Erziehungsberatung usw.) sind überwiegend Dipl.-Psychologinnen und -Psychologen oder z.B. Pfarrerinnen und Pfarrer mit psychologischer Zusatzausbildung tätig. Kommunen, Kreise, Bundesländer, staatliche Ämter, große gesellschaftliche Organisationen (wie vor allem die Kirchen) und Verbände der Wohlfahrtspflege (Caritas, Diakonisches Werk, Arbeiterwohlfahrt, Paritätischer Wohlfahrtsverband u.a.) bieten Beratung an, um die grassierende "Krankheit der nicht gelingenden Sozialisation" einzudämmen. Dass hinter der Errichtung — vor allem der Erziehungsberatungsstellen — ein politischer Druck stand, sollte nicht verschwiegen werden: für die amerikanische Be­satzungsmacht war Erziehungsberatung Teil des Reeducation-Programms; die im Zuge dieses Programms installierten Einrichtungen (1952 rund hundert Erziehungsberatungsstellen) mussten später von Ländern und Kommunen übernommen und weitergeführt werden.
Seitdem ist eine weitere Differenzierung im Beratungsbereich im Gang: Erziehungsberatung ist in staatlichen Richtlinien verankert, entspricht einem staatlich anerkannten Auftrag — und ist entsprechend gesichert.
Ehe- und Familienberatung, die sich inhaltlich ständig mit Anliegen der Erziehungsberatung überschneidet, ist im allgemeinen Sache von kirchlichen und freien Trägern, die ständig mit Finanzierungsschwierigkeiten kämpfen müssen. Die im Gesamtfeld professioneller Beratung obwaltende Logik ist eine historisch und politisch, keine unbedingt sachlich begründete.
Attraktiv ist für Beratungssuchende an verbandlicher und kirchlicher Beratung offenbar die Einbindung der Beratungsangebote in ein System von Hilfen, die institutionelle Komplexität z.B. kirchlicher Hilfen: diese hängt sowohl mit der ganzheitlichen theologischen Anthropologie als auch mit der traditionellen organisatorischen Ausdifferenzierung in ein breites Spektrum offener, teilstationärer und sta­tionärer diakonisch-caritativer Hilfen zusammen. So können z.B. der "Problemgruppe" der Frauen in Konfliktsituationen neben Beratung noch zahlreiche andere Hilfen vermittelt werden (Hilfen kirchlicher Stiftungen, Vermittlung in Mut­ter-Kind-Wohngemeinschaften oder entsprechende Selbsthilfegruppen usw). Oder etwa die kirchlich-diakonische Suchtkrankenberatung ist in einen regelrechten Therapieverbund integriert, in eine sog. therapeutische Kette mit den Gliedern Erstkontakt bzw. Motivierung, Entgiftung, Entwöhnung, spez. Re­habilitation und Nachbetreuung.
Manches Beratungsverständnis bringt überhaupt Abgrenzungsschwierigkeiten zur Seelsorge mit sich: ein klassisches "Mischfeld" ist die Telefonseelsorge. Beratung ist hier, wie die Seelsorge auch, „dem verletzten Lebensganzen auf der Spur“ (K.-D.Ulke); beide wollen Wege ausfindig machen, „die zu weniger verletztem oder verletzendem Leben führen könnten“; beide brechen ein in das ganze Netzwerk gesellschaft­licher Verletzungen, weil unter uns „die Verletzung des einen... den andern verletzt“ (ders.).

Das beratende Gespräch  -  Das helfende Gespräch  -  Das Verständigungsgespräch
 
Konzepte, Literaturauszüge  
Es gibt viele fachliche Gesprächsmodelle:
etwa das klassische Lehrgespräch in sokratischer Tradition,
das Seelsorgegespräch, das in traditioneller und gesprächspsychotherapeutisch beeinflusster Form existiert,
das Explorationsgespräch (nach L.Pongratz eine „tätige Erkundung“),
das sog. helfende Gespräch in z.T. sozialarbeiterischer, z.T. seelsorgerlicher Tradition,
das psychoanalytische Gespräch, das Traumatisiertes dem Bewusstsein zugänglich machen will,
das verhaltenstherapeutische Gespräch, das Zuwendungsintensität als Mittel der Verhaltensänderung benutzt;
das gestalttherapeutische Gespräch, das dem Ich dazu verhelfen will zu lernen, die in der Vergangenheit „unerledigten Situationen“ zu integrieren, um zu einer „Schließung guter und prägnanter Gestalten“ im „Jetzt“ kommen zu können;
die Gesprächspsychotherapie, die auf einfühlende, nicht-direkte Gesprächsführung abhebt; u.a.m.  
Daneben haben sich viele pragmatische Mischformen entwickelt. Die Klammer zwischen den meisten kombinierten Gesprächsmodellen ist m.E. die gesprächspsychotherapeutische Konzeption nach Carl G. Rogers (Die klientbezogene Gesprächspsychotherapie, 1973); sie vermittelt u.a. auch zwischen der klassischen Seelsorge und modernen Konzepten. 
 
Carl G.Rogers nannte seine Methode ursprünglich „non-directive“, später „client-centered“. Fundamente des Konzepts sind positive Grundannahmen vom Menschen: Menschen besitzen nach Rogers eine Selbstgestaltungstendenz und sind grundsätzlich fähig, diejenigen ihrer Wesensanteile zu verstehen, die ihnen Ängste und Kümmernisse bereiten.
 
In der Therapie wird der Mensch dementsprechend akzeptiert als selbständige Person, der es ermöglicht werden soll, ihre Gefühle, Wünsche und Wertvorstellungen zu klären. Dem positiven Menschenbild entsprechen positive Gesprächsvariablen: dem Rat und Hilfe suchenden Menschen soll mit Wertschätzung, die nicht an Bedingungen geknüpft sein soll, unverstellt-echt und nach „aktivem Zuhören“ mittels möglichst getreuer Versprachlichung der emotionalen Erlebnisinhalte („Spiegeln“) begegnet werden. Direkte Ratschläge, Wertungen, Interpretationen werden vermieden. Der Therapeut/die Therapeutin schafft so Bedingungen, die es Menschen ermöglichen sollen, ihre Probleme zu bearbeiten.
 
Dieses Grundmodell hat vielfach Aufnahme und Weiterentwicklung erfahren. So z.B. im Modell des helfenden Gesprächs nach Eisele/Lindner oder im Konzept der mitfühlenden Kommunikation nach Stephen R. Covey (Die sieben Wege zur Effektivität, 4. Aufl. 1996).
 
Hier liegt der Hauptakzent zunächst auf dem Verstehen. Covey meint: Aufgrund seiner Ausbildung hat jeder Mensch, mehr oder weniger intensiv, lesen, schreiben und sprechen gelernt. Die verbleibende vierte Möglichkeit der Kommunikation ist das Zuhören, die des öfteren vernachlässigt wird. Die meisten Menschen sind damit beschäftigt, ihren Standpunkt zu vertreten, zu sprechen oder sich darauf vorzubereiten.
 
Oftmals werden die eigenen Erfahrungen und Gefühle auf den anderen projiziert. ,Ich weiß genau wie du dich fühlst! Mir ging es genauso.’ Was der andere tatsächlich fühlt, bleibt vorerst unausgesprochen.
 
Mitfühlendes Zuhören hat demgegenüber die Absicht, zu verstehen und in die Welt des anderen zu tauchen, soweit dies die eigenen Paradigmen zulassen. Es geht darum, die Situation, in der sich der andere befindet, intellektuell wie emotional zu erfassen. Den anderen zu verstehen, bildet somit für die Großzahl der Menschen einen Paradigmenwechsel.
 
Covey bemüht die Kommunikationsforschung, die davon ausgeht, dass nur 10 % der menschlichen Kommunikation über Worte laufen. Weitere 30 % werden über den Tonfall und die Betonung gewisser Wörter vermittelt. Den Hauptanteil mit 60 % nimmt die Körpersprache ein: was verdeutlicht, dass Zuhören nicht nur eine Sache der Ohren, des Hörens der Worte ist, sondern auch mit den Augen und dem Herz erfolgen sollte, um das Befinden des anderen wahrzunehmen.
 
Mitfühlendes Zuhören kann heilend und therapeutisch wirken. Hier beruft sich Covey auf Rogers, der beschrieben hatte, welches Therapeutenverhalten eine solche Atmosphäre schaffen kann:
 
> Authentizität und Transparenz, das Zeigen der eigenen Gefühle (was u.a. Bewusstheit über die eigenen Gefühle voraussetzt),
> Akzeptanz, Schätzen des Gegenübers als eigenständiges Individuum,
> Empathie, die Welt mit den Augen des Gegenübers sehen.
 
Gleichgültig, wie man es formuliert, es ist wichtig, dass das Gegenüber diese Intentionen mitbekommt. Eine solche Fähigkeit des Zuhörens befriedigt das menschliche Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung. Auf dieser Basis können sich die Beteiligten ihren Aufgaben oder Problemen zuwenden.
 
Covey führt die Methoden auf, die das Zuhören „normalerweise“ prägen. Sie sind alle autobiographisch, d.h. auf die eigenen Erfahrungen ausgerichtet:  
 

 
> Werten: Die Meinung des anderen wird als der eigenen ähnlich oder abweichend wahrgenommen.
> Sondieren: Das Eintauchen in den Intimbereich des anderen führt zu Abwehrverhalten.
> Beraten: Man erteilt Ratschläge auf der Basis der eigenen Lebenserfahrung.
> Interpretieren: Man versucht, das Verhalten, die Worte des Gegenübers zu deuten.  

 

Diese Verfahrensweisen können das Eigenverständnis der Problematik behindern, da sie dem Gegenüber nicht erlauben, sich verbal zu entfalten.
 
Autobiographisches Material  k a n n  aber auch hilfreich sein, denn es kann dem Gegenüber von Nutzen sein, beispielsweise als Lösungsmöglichkeit der bestehenden Situation. Der Zuhörer sollte das Problem jedoch weitestgehend verstanden haben, bevor er beginnt, sein autobiographisches Material darzulegen.
 
Mitfühlendes Zuhören verhilft dem Zuhörer die Dimension des Problems wahrzunehmen. Covey stellt vier Stufen des mitfühlenden Zuhörens dar:
 
Schritt 1: Wörtliches Wiederholen der Aussage. Dies kann dem Zuhörer verhelfen, den Aussagen zu folgen. (Zuhören, um zu verstehen).
 
Schritt 2: Wiedergabe des Inhalts in eigenen Worten. Dies hilft dem Zuhörer, den Inhalt zu reflektieren, weil er durch das Umformulieren des Gesagten, Ausdrücke und Redeformen des Gegenübers in die ,eigene Sprache‘ übersetzt.
 
Schritt 3: Reflexion der Gefühle. Hier artikuliert der Zuhörer die Gefühle, die er wahrnimmt, die in dem Gesagten mitschwingen.
 
Schritt 4: Verbindung der Schritte 2 und 3. Der Zuhörer formuliert den Inhalt in seinen eigenen Worten und artikuliert die Gefühle.
Verhält sich der Zuhörer wie in Schritt 4, gibt er dem Menschen, dem er zuhört, die Chance, sich gedanklich zu entfalten. Das Vertrauen steigert sich, denn der Erzählende macht die Erfahrung, mit seinem Problem angenommen zu sein. Dies ermöglicht ihm, die tieferen und verletzlicheren Ebenen des Problems oder Bedürfnisses zu artikulieren. An diesem Punkt ist das Wissen des Zuhörers von Interesse, jetzt ist klar, worum es geht, und der Erzählende ist nun offen auch für Ratschläge, Fachwissen oder Erfahrungen des Zuhörers.
 
Grundlegend ist der Rogers’sche Ansatz z.B. auch für Peter F. Schmid (Das beratende Gespräch. Methode und Praxis der Gesprächsführung, Wien 1973), der im folgenden ausführlicher zitiert wird.
„...Das Glücken oder Misslingen eines Gesprächs hängt wesentlich mehr von der Gefühlslage ab, als wir dies im allgemeinen annehmen. Jeder Kontakt, den zwei Menschen miteinander haben, erweckt durch allerlei Assoziationen bei beiden Gesprächspartnern eine Menge von Gefühlen. Diese Emotionen treten auch unabhängig vom Inhalt des Gesprächs auf. Oft sind wir uns unserer Gefühle auch gar nicht bewusst. Sie stecken hinter den Worten. Hören bei einem Gespräch bedeutet also mehr, als dass nur die Worte des anderen aufgenommen werden: es ist vielmehr das Vermögen, sich in die Gefühle des Partners hineinzuleben.
Im besonderen gilt das für jemanden, der Gespräche führt, durch die er Ver­antwortung auf sich nimmt. Das ist schon bei jedem der Fall, der um Rat gefragt wird. Besonders wichtig aber ist die Beherrschung der Gesprächssituationen für Menschen in ... (bestimmten) Berufsgruppen...
Es gibt eine Unzahl (verschieden gut fundierter) Methoden der Gesprächsführung. Die meisten von ihnen kommen aus der Psychotherapie. Mit mehr oder weniger Erfolg wird versucht, die Regeln einzelner psychotherapeutischer Systeme oder Praktiken für die 'normale' Gesprächsbeziehung zu adaptieren... Wir greifen für unser Anliegen größtenteils auf die Methode des ameri­kanischen Psychotherapeuten Carl R. Rogers und seiner Schule zurück...
1.3. CHARAKTERISTIK DES BERATENDEN GESPRÄCHS
Der Begriff 'beratendes Gespräch' bzw. 'Beratungsgespräch' bezeichnet recht gut den  Anwendungsbereich  der  hier vorgelegten Gesprächsmethode: Alle Situationen, in denen jemand Rat und Hilfe sucht, sei es für ein einmaliges Gespräch oder auf längere Dauer.
 
1.3.1. Voraussetzungen
Grundannahme und Voraussetzung ist, dass der Beratene die Bedingungen seiner Existenz und sich selbst verstehen kann, daß er imstande ist, sein Leben eigenverantwortlich und selbständig weiterzuführen, sobald er seine Krise... durchschaut und verstanden hat... Das Prinzip lautet: Dem Partner 
h e l fen, sich   selbst   zu   helfen.
Rogers charakterisiert seine Methode als 'non-directive'..., 'client-centered'... und 'accepting'... Das schließt ein, daß niemals der Gesprächsleiter oder das Thema im Mittelpunkt stehen dürfen, sondern immer der Ratsuchende selbst diese Mitte des Gesprächs sein muss. Wer sich allzu sehr auf den Inhalt der Worte des anderen konzentriert, geht am andern selbst vorbei, ignoriert seine Gefühle und sein Erleben (Anm.: Rogers und Tausch... lehnen für die Ge­sprächspsychotherapie jede inhaltliche Beratung bezüglich Verhaltensweisen und Maßnahmen ab. Für Gespräche unserer Art trifft das in dieser ausgepräg­ten Form im allgemeinen nicht zu. Wichtig ist vor allem, dass der Inhalt nicht unabhängig vom emotionalen Erleben besprochen wird).
 
1.3.2. Grundhaltung
...Der Gesprächsleiter muss zunächst einmal mit echter Aufmerksamkeit, An­teilnahme und Liebe 'bei dem anderen sein', ihm im Wechsel seiner Gefühle folgen und ihn so nehmen, wie er gerade hier und jetzt ist. Das schließt aus, dass er ihm wie einem 'Objekt' begegnet, also z.B. aus einem Abstand heraus über ihn urteilt oder ihn in eine gewünschte Richtung dirigiert... Hier zeigt sich, daß echte Beratung gerade das Gegenteil jedweder Art auto­ritären Handelns ist...
Als Beispiel sei hier erwähnt, dass es grundsätzlich einen Unterschied bedeutet, ob der Berater sagt: 'Es ist völlig unnütz, sich über solche Kleinigkeiten auf­zuregen!' oder in echter Anteilnahme des anderen die Frage stellt: 'Welche Bedeutung hat dieses Erlebnis für Sie ?'...Wer ... 'aktiv zuhört', hört auf die Gefühle des anderen und lebt mit dem Gesprächsablauf mit. So wird Zuhören zu nonverbaler Kommunikation... Richtiges Zuhören ist ein wesentlicher Faktor beim Prozess der Klärung und Überwindung eines Problems. Michael Balint meint, dass dazu 'eine wesent­liche, wenn auch begrenzte innere Umstellung' der Persönlichkeit nötig ist. Darüber hinaus ist es für den Gesprächspartner sehr wichtig, dass ihn der Berater bejaht (acceptance). Wer einen anderen Menschen akzeptiert, hilft ihm, sich selbst zu bejahen...- Es handelt sich im ganzen also um eine bedingungslos positive Beziehung (unconditional positive regard). Der Berater steht dem Gesprächspartner zur Verfügung, er akzeptiert ihn voll, lässt dessen Gefühle gelten und auf sich wirken... Im Verlauf der Gesprächsbeziehung wird es dem Partner dann gelingen. Abstand von sich selbst zu gewinnen, seine Probleme objektiver zu sehen; seine  Einsicht und sein  Selbstverständ­nis   wachse n...
 
1.3.3  Methode  
 
1. 3. 3.1. Spiegeln
...Spiegeln (reflection) bedeutet..., die von dem andern oft etwas undeutlich und meist mit einem gewissen Widerstand hervorgebrachten Gefühle, Einstellungen und Verhaltensweisen neu zu formulieren und mit 'echtem, aber zugleich distanziertem Mitgefühl' (Rogers) zurückzuspiegeln. Der Gesprächs­partner kann sich in diesem Spiegel selbst sehen, weitgehend objektiv erkennen. ... Spiegeln ist die Empfangsbestätigung dafür, dass das Geäußerte verstanden und in seiner Bedeutung erkannt worden ist. Es wird nun verstehend, erhellend, nochmals ausgesagt. Die Mitteilung wird so 'zurückgeleitet', dass der andere 'angeregt wird, seine Gedanken und seine Gefühle weiter zu entfal­ten' (Johnson) und allmählich selbst zu verstehen und einsichtig zu überden­ken.
 
1. 3. 3. 2.  Empathie
...Empathie ist die Fähigkeit, sich den zu besprechenden Problemen gegen­über einzustellen wie der Partner, die Probleme mit dessen Augen zu betrachten... Diese Einfühlung wird im Gegensatz zur 'emotionalen' als 'empathische Identifikation' bezeichnet. Maximale Annäherung (die Gefühle miterle­ben) bei gleichzeitiger Distanz (sich nicht in die Gefühle hineinreißen lassen) bedeutet: Es entsteht zwischen den beiden eine Atmosphäre des Vertrauens.
 
1. 3. 3. 3.  Bezugsrahmen
Von entscheidender Bedeutung ist es auch, in einem Gespräch stets den Bezugsrahmen (internal frame of reference) zu finden... Es geht um das spezi­fische Erleben dieser Situation, nie um allgemeine Aussagen. Niemals darf der Berater den anderen in ein Schema einordnen wollen. ... Ein Gespräch muss konkret und individualspezifisch, persönlich sein. Jeder Gesprächspartner, jedes Gespräch ist einmalig... Auf keinen Fall darf der Gesprächsleiter seine Interpretation aufdrängen oder etwas erklären wollen, was der Gesprächs­partner in diesem Augenblick noch nicht verstehen kann. Er darf nicht unge­duldig werden und muss dem anderen Zeit lassen können. ...
 
1.4.   DIE PHASEN EINES GESPRÄCHS
...Je nach der Intention des Gesprächs wird es verschieden ablaufen müssen. Hier können daher keine allgemeinen Regeln aufgestellt werden... Oft werden vier Teile unterschieden: Eröffnung (Aussprechen und Zuhören, gegenseitige Information, Aufbau einer Vertrauensrelation, allmähliche Klärung). Erhellung (Entwicklung gegenseitigen Verstehens, Äußerung von Gefühlen und Einstellungen, Klarstellung über Bedeutung und Richtung des Gesprächs). Konfrontation und Entscheidung (Durchbesprechen des Wesentlichen, Entscheidungsmöglichkeiten werden in Betracht gezogen und abgewogen, gegenseitiges Geben und Empfangen, allmählich Wandel im Selbstverständnis und Verhalten). Integration (Schluss, ein Stück Zukunft eröffnen, zunehmende Autonomie, evtl. Ausblick auf weiteren Kontakt).... Dabei muss natürlich berücksichtigt werden, dass ein Gespräch ja nicht rein linear verläuft und erst im späteren Verlauf ein (eventuell neues) Problem auftritt, so dass dort von neuem mit dem Spiegeln begonnen werden muss..."  
 
 
 
Kleiner Test
Eine jüngere Frau erzählt: „Jetzt wohne ich schon zehn Jahre in dieser Stadt. Und sieben Jahre im selben Haus. Und ich kenne noch immer keinen Menschen. Im Büro finde ich erst recht keine Freunde. Äußerlich gebe ich mich freundlich, aber innerlich fühle ich mich steif und ungemütlich, wenn ich mit jemandem rede. Manchmal sage ich mir: Das ist alles nicht so schlimm. Du kommst auch allein durchs Leben. Du brauchst keine Freunde, und bisweilen meine ich das wohl tatsächlich ernst.“
 
Beurteilen Sie folgende Antworten auf die Äußerung der Frau; welche Antwort ist einfühlend-spiegelnd, welche wertend, welche sondierend, welche interpretierend, welche stützend ? (s.o.: Covey)
 
 

Antworten

Charakterisierung

1. Ich wüsste eine Gruppe, die Ihnen vielleicht gefallen würde. 
(Schilderung der Gruppe) Hätten Sie Lust, da mitzumachen?

 

2. Sie mussten schon so lange ohne Freunde und Bekannte auskommen, dass Sie manchmal meinen, Sie brauchten gar keine.

 

3. Vielleicht erzählen Sie mir einmal, auf welche Weise Sie Bekanntschaften zu schließen versuchen.

 

4. Vielleicht wehren Sie sich gegen irgendetwas, wenn Sie zu sich selber sagen: "Ich brauche gar keine Freunde"?

 

5. Es ist bitter, keine Freunde zu haben. An Ihrer Stelle würde ich versuchen, etwas dagegen zu unternehmen. Vielleicht müssen Sie ganz einfach noch lernen, wie man Bekanntschaften schließt. Je eher Sie damit anfangen, desto besser für Sie.
 
(Beispiel nach Eisele/Lindner)
 
Ideen- und erklärungsgeschichtlicher Exkurs:  
 
Woher kommen Störungen?
Wie erklärt(e) man sich abweichendes Verhalten und Hilfebedürftigkeit?  
 
 
1. Das Dämonenmodell
Unheimliche Kräfte treiben in einem Menschen ihr Unwesen und bringen ihn dazu, sich seltsam zu benehmen. Behandlungsmittel: Exorzismus, Beschwörungen und Gebete, Lockmittel und Vertreibungsmittel (misstönende Klänge, widerliche Gerüche usw.), Gewaltmittel (Prügelungen, Fesselungen, systematische Folter). Vielerorts gehörten körperliche Schläge dazu: gegenüber unangepasstem Verhalten wird noch immer geprügelt (Eltern stehen ihren Kindern oft ähnlich hilflos gegenüber wie die frühen Menschen den psychisch abweichenden Phänomenen). Die elektrischen Schläge der Psychiatrie kommen aus einer Vorstellungswelt, die weit zurückreicht, wohl noch aus dem Dämonenmodell stammt.  

2.Das Vergötterungsmodell
Im klassischen Griechenland, aber z.B. auch in indianischen Kulturen, waren "andere" Menschen als göttliche Medien angesehen. Auffälliges Verhalten, schizophrene Schübe, zeitweilige oder dauernde Verwirrung müssen Ergebnis unbegreiflicher göttlicher, auf jeden Fall "höherer" Einwirkung sein. Der Auffällige ist wichtig, sagt uns etwas, transportiert eine Botschaft. Eine Art Therapie war hier nicht denkbar, bestenfalls eine Art Spiegeln. Nach H.-E. Richter findet sich das Modell auch ohne diesen religiösen Hintergrund: er untersucht Familienneurosen, bei denen ein Familienmitglied zum Symptomträger für die gesamte Familienproblematik wird. Der auffälligste Familienangehörige wird zur Schlüsselfigur der familiären Gruppe.

 

3. Das Sünder-Modell
Grundlage: die Vorstellung eines gerechten, strafenden und belohnenden Gottes; diese Gerechtigkeit erhält menschliches Zusammenleben aufrecht. Von daher kommen die Regeln, die Gesetze des Zusammenlebens, etwa die 10 Gebote. Der gestörte, auffällige Mensch verstößt dagegen (etwa gegen das Gebot des Aggressionsverzichts, gegen das Ehrlichkeits- oder Enthaltsamkeitsgebot).
Die neuere präventive Medizin (die z.B. zeigt, dass falsche Lebensweise "bestraft" wird) hat ähnliche Prämissen. Man sagt heute nicht mehr "Sünde", sondern "Risikofaktor"; daher: du sollst nicht rauchen, nicht trinken usw. Das Engagement gegen die "Sünde" ist ähnlich, strukturanalog, denn das kritisierte Verhalten ist eigentlich gegen die "natürlichen" Regeln.

4. Das generative Modell
Auch schon alt; gibt es aber auch im neuesten Gewande. Zugrunde liegt die alte Beobachtung, dass Menschen der gegenwärtigen Generation gewisse Merkmale ihrer Vorfahren an sich tragen. Z.B. eine bes. auffällige Nase oder das Fehlen von Ohrläppchen usw. Und nun denkt man, dass auch soziale und psychische Auffälligkeiten vererbt werden (vor allem konstatiert man das in Sachen Ordnung, Zuverlässigkeit, Offenheit und Ehrlichkeit, Benehmen, Geduld, Intelligenz: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“). Die wissenschaftliche Vererbungstheorie legt gewisse Zusammenhänge nahe, ist aber eher zu so etwas wie einem Schicksalsmodell geworden; zugleich werden Helfern und Erziehern für ihr Versagen Entschuldigungen geliefert: „Bei dem kann man nichts machen...“

5. Das medizinische Modell
Fast jede psychotherapeutische Therapie arbeitet mit der eigentlich medizinischen Vorstellung, dass eine Beziehung zwischen (inneren) Ursachen und (äußeren) Symptomen bestehen muss. Dem hat z.B. die Verhaltensforschung widersprochen (Ablehnung der Zweiteilung in "Symptome" und "eigentliche" Ursachen; Behauptung: wenn ich das Symptom heile, heile ich auch die Krankheit).
 
Man kann also z.B. bestimmte nervliche und psychische Erscheinungen auf Magengeschwüre zurückführen. Nur: im medizinischen Modell gerät man in einen Teufelskreis: Man muss davon ausgehen, dass den Ursachen Ursachen zugrunde liegen. Im medizinischen Modell daher meist: eine relativ willkürliche Grenzziehung der Ursachenfindung.

6. Das Willensmodell
Wurzeln in der europäischen Aufklärung. Der Mensch wird zum Maß der Dinge, er hat grundsätzlich Freiheit (nach dem genetischen Modell hat er grundsätzlich keine), kann sich entscheiden. Seelische Phänomene werden zu einer Realität zweiter Ordnung. „Er hätte es ja weiter gebracht, aber seine Komplexe haben ihm einen Streich gespielt“ usw. Jemand will, aber er kann nicht; das heißt nun: er will nicht richtig. Psychologisch gesprochen, geht es um die Bedeutung der Ich-Funktionen. Ratschläge: du musst dich zusammennehmen, darfst dich nicht hängen lassen.

7. Das Umweltmodell
Wurde immer komplexer: Leben steht grundsätzlich in Beziehung. "Reines" Verhalten in einem sozialen Vakuum gibt es nicht. Reduktion wird nötig bei allen Wechselwirkungsansätzen. Asendorpf: wir schaffen Umwelt mit, die wiederum auf uns zurückwirkt. Das Ganze: ein bodenloses Fass. Hilfe, Beratung, Therapie werden nicht nur sehr kompliziert; es kommen auch andere Einwände (mehr oder weniger begründet): Wenn ich dir einen Rat gebe, nützt das nicht viel, weil du ja wieder in deine Umwelt kommst, unter die alten Einflüsse gerätst, und dort wirst du rückfällig. Daher geschieht Hilfe oft außerhalb von Wirklichkeit oder in Teilwirklichkeiten.
 
 
Nachdenken zur Selbstverständigung
 
Warum wollen Sie das helfende Gespräch erlernen? Warum helfen eigentlich Menschen Menschen?
Drei große Antwortlinien gibt es zur Zeit:
 
Biologische, verhaltenswissenschaftliche u.ä. Theorien
Theorie vom kreatürlichen Hilfstrieb (Hilfsbereitschaft gehört demnach zur Grundstruktur des sozialen Primaten Mensch; bestimmte Signale setzen quasi "automatisch" Hilfeinstinkte frei [Theorie vom „positiven Kindchenschema“] usw.); in der Natur dienen Brutpflege und andere Hilfeformen der Arterhaltung, das Überzählige oder Schwächliche dagegen wird ausgesondert.
 
Soziologische Theorie
Helfen als zweckrationaler Akt, um im Tauschprinzip eigenes Leben zu sichern. Grundform des Helfens: Hilfe auf Gegenseitigkeit; im Verlauf der Geschichte kommt es zur „Dehnbarkeit der Dankbarkeit“ (Luhmann), bis schließlich das Geld, die bezahlte Hilfe, zum Dankbarkeitsäquivalent wird.
 
Psychologische Theorien
Theorie vom Helfersyndrom (W.Schmidtbauer): Helfen als ein Mittel, um Anerkennung, narzisstische Bestätigung zu erlangen (Gebrauchtwerden als Ersatz für Geliebtwerden); oder als Abwehr anderer Formen zwischenmenschlicher Beziehungen; oder als eine Form der Selbstbestrafung durch Selbstausbeutung o.ä.
 
Da einem nach diesen Theorien Helfenwollen als Negativum ausgelegt werden kann, haben sie z.T. lähmend gewirkt. Zwischenzeitlich hat – auch wegen der Notwendigkeit verstärkten ehrenamtlichen Engagements – eine argumentative Gegenbewegung eingesetzt: Hilfe als souveräne Daseinsäußerung gegen die Infragestellung durch Psychologie, Soziologie, Biologie u.a.; etwa nach dem Motto: Ich habe also ein Helfersyndrom – na und?