Was am Jungfernsprung wirklich geschah
 
Wenn euch die Erwachsenen erzählen wollen, am Jungfernsprung sei vor vielen, vielen Jahren ein Mädchen herunter gesprungen, weil ein schöner Ritter in blitzender Rüstung es küssen wollte, so glaubt es ihnen nicht.  Kein Mädchen springt von einem Felsen, weil ein Mann es küssen will. Heute nicht und damals, als sich das Ganze zugetragen hat, auch nicht.  
"Damals", das ist so lange her, dass noch nicht einmal die Großmutter von der Großmutter meiner Großmutter geboren war. In dieser Zeit gab es keine Autos und keine Flugzeuge, die Menschen wussten nicht, dass es krank machen kann, wenn man schmutziges Wasser trinkt und sie wussten nicht, dass die Erde eine riesige Kugel ist, die sich um die Sonne dreht.
Es gab noch keine Zeitung, in der man das Alles hätte nachlesen können und es gab nur ganz wenige Bücher. Weil die Druckerpresse noch nicht erfunden war mussten alle Bücher mit der Hand geschrieben werden, darum waren Bücher so teuer, dass nur ganz reiche Leute sich ein Buch kaufen konnten. Und nur ganz reiche Leute konnten einen Lehrer bezahlen, der ihren Kindern das Schreiben und Lesen beibringen durfte.
Die Menschen damals glaubten, die Erde sei eine Scheibe und alle hatten Angst, von dieser Scheibe herunterzufallen. Darum verließen sie auch nie den Ort, an dem sie geboren waren, denn sie hatten Angst, wenn sie zu weit in eine Richtung liefen würden sie von dieser Scheibe herunterfallen. Als später dann ein ganz kluger Mann heraus fand, was es mit der Erde auf sich hatte und den Menschen erzählte, dass die Erde eine Kugel sei, die sich um die Sonne dreht, da glaubten sie ihm nicht und stellten ihn vor ein großes Gericht. Dort saßen lauter dumme Menschen, die zwar lesen und schreiben konnten, aber sonst von rein gar nichts eine Ahnung hatten. Aber sie hatten viele Soldaten und Polizisten, die aufpassten, dass jeder nach den Gesetzen der dummen Menschen lebte. Wenn einer den Mut hatte und sagte, die Richter seien dumm, dann kamen die Soldaten und steckten den, der das behauptet hatte, ins Gefängnis, wo er nichts mehr zu essen und zu trinken bekam und jämmerlich sterben musste. So drohten sie auch dem schlauen Mann, der herausgefunden hatte, dass die Erde keine Scheibe ist, ihn ins Gefängnis zu stecken, wenn er nicht sofort und auf der Stelle sagen würde, dass er sich geirrt habe. Da tat der kluge Mann, was man von ihm verlangte, denn der Klügere gibt immer nach, ging nach Hause und schüttelte den Kopf über so viel Dummheit.
So war das damals. Aber ich wollte euch ja erzählen, was damals am Jungfernsprung passiert ist. Diese Ritter in jenen längst vergangenen Zeiten waren gar nicht so toll, wie wir das heute noch immer glauben. Aber weil es niemanden gab, der es aufschreiben konnte und es keine Zeitung gab, in der die Menschen nachlesen konnten, was diese Ritter so trieben, mussten die Menschen ihnen einfach glauben. Ihr seht also, wie wichtig es ist, dass man lesen und schreiben kann, denn sonst kommen andere und erzählen euch, dass euch der Himmel auf den Kopf fällt, wenn ihr euch beschwert. Und weil ihr dann nicht nachlesen könnt, dass einem der Himmel nicht auf den Kopf fallen kann, werdet ihr es glauben und ganz schlimme Angst bekommen. So wie die Menschen damals, die alles machten, was ihnen die Ritter und reichen Herren, die Fürsten und Bischöfe, die alle in Speyer lebten, so erzählten. Die Menschen damals glaubten den Rittern, wenn sie behaupteten, Gott habe sie, die Reichen, ganz besonders lieb. Darum würde er ihnen so viel Geld und Macht schenken.
Ja, die armen Leute, die glaubten das. Sie arbeiten für die reichen Herren, weil sie dachten, dass der liebe Gott sie dann auch ein bisschen lieben und ihnen Brot und Kleidung und ein wenig Geld schenken würde. Das war natürlich Quatsch, aber weil sie ja nicht lesen konnten und es noch keine Bücher gab, konnten sie sich auch nicht informieren, dass der liebe Gott niemals so einen Unfug behauptet hat. 
Stellt euch vor, diese reichen Herren behaupteten, dass sie alle Menschen, auch die jungen Mädchen, die für sie arbeiteten, besitzen würden. Darum verlangten sie von jedem Mädchen, das einen Liebsten hatte und gerne heiraten wollte, ins Schloss oder auf die Burg zu kommen. Dort musste es sich ausziehen und in das Bett des feinen Herrn legen. Er sagte, er müsse schauen, ob das Mädchen auch eine gute Frau werden würde..
Und dann küsste er sie und schmuste mit ihr und machte mit ihr all die Dinge, die ein Mann und eine Frau nur machen sollten, wenn sie sich wirklich von ganzem Herzen lieb haben.
Natürlich fanden die Frauen das nicht schön, weil sie ja unten im Dorf ihren Liebsten hatten, der auf sie wartete und der sie auch gerne in den Arm genommen hätte. Aber weil ja keiner nachlesen konnte, dass die reichen Herren nichts als Quatsch erzählten, glaubte man ihnen, aus Angst, dass der liebe Gott sie sonst gar nicht mehr lieb haben würde.
Nun gab es auf dieser großen Burg hoch oben über Dahn nicht nur den reichen Herrn, da lebten jede Menge Diener und Knechte, und Mönche, die die Kinder des reichen Burgherren unterrichteten. Und natürlich lebten auch die Kinder von den Dienern und Knechten auf der Burg. So kam es, dass die Tochter der Küchenmagd, die kleine Marie, eine ganz besondere Freundin des Grafensohnes wurde. Schon bald konnte Marie lesen und schreiben, denn ihr kleiner Freund brachte ihr alles bei, was er am Morgen bei den gelehrten Mönchen selbst gelernt hatte. Immer wieder schlichen sich die beiden Kinder in die Bibliothek der Burg, wo all die alten Folianten aufgehoben wurden. Marie war von einer alten Bibel völlig fasziniert. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu lesen, denn es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. All das, was die reichen Herren erzählten, war ja gar nicht wahr. Gott war ja keiner von den reichen Herren. Gott ist auf Seiten der Armen, der Kranken, der Frauen und Kinder. Gott liebt freie Menschen und es steht geschrieben, in dem Buch, das "Bibel" heißt, dass keiner dem andere untertan sein soll. Und Marie brachte ihre Erkenntnisse ins Dorf und erzählte dem Großvater und Vater, den Geschwistern, Onkeln und Tanten von der frohen Botschaft Gottes. Erzählte, dass Jesus die Frauen und Kinder geliebt hatte und nicht wollte, dass einer Herr über den anderen sei.
Das gefiel dem reichen Grafen natürlich nicht. Als er merkte, dass die Bauern ihm nicht mehr dienen wollten und ihm nicht mehr den zehnten Teil von allem was sie ernteten abgeben wollten, da packte er in einer Neumondnacht die kleine Marie in eine Kutsche und ließ sie nach Speyer in ein Kloster bringen. Man hat nie wieder etwas von ihr gehört und gesehen.
Unten im Dorf aber lies er verbreiten, dass der Jäger der Marie nachgestellt habe. Darum sei sie auf den Jungfernsprung geflüchtet und als der Jäger sie habe küssen wollen, sei das brave Kind in den Abgrund gesprungen. Weil es eben so brav gewesen sei, habe der liebe Gott seine Engel geschickt, die es aufgefangen und in den Himmel gebracht haben. Die Menschen damals haben ihm geglaubt, dem feinen Herrn von der Burg, und nannten den Felsen von da an "Jungfernsprung".
Aber ihr wisst jetzt, wie es wirklich gewesen ist, darum glaubt nicht alles, was man euch erzählt. Lest lieber selber nach, sonst geht es euch wie manchen Erwachsenen, die immer noch glauben, der liebe Gott mache einen Unterschied zwischen Armen und Reichen, Männern und Frauen, großen und kleinen Leuten.