Dem Engel Michel sein Osterfest
 
„Früher, ja früher“, sagte der alte Engel Michel und schob seine Meerschaumpfeife vom rechten Mundwinkel in den linken, während er die sterbenden Flammen im Herd beobachtete.
Der Engel Michel, der Gute, der Weise, gehörte zu den Dahner Institutionen wie die Kirche, die Burg und die Wieslauter. Die waren auch schon immer da gewesen und niemand im Dorf hätte sagen können, dass er sich an eine Zeit ohne sie erinnern konnte.
Einmal, das ist jetzt auch schon wieder Ewigkeiten her, da war der Engel Michel mit jener glorreichen Armee nach Russland gezogen, hatte Dinge gesehen, die sein Leben völlig verändert hatten. Doch das ist wieder eine andere Geschichte.
Der Engel Michel hielt auf Tradition und so ließ er auch an diesem Karfreitagabend im Herd das Feuer erlöschen, während er seinen Urenkeln, die sich mit ihren Familien vollzählig eingefunden hatten, seine Geschichten erzählte. Unter anderem die Geschichte vom Holunderbusch und der Engel Michel erzählte, warum das Labkraut auch ‚Jesusschweiß’ genannt wird, wie die Königskerze geboren wurde und warum aus einer Weide eine Trauerweide wurde. So nahm der Karfreitag im Hause der Familie Engel wie in jedem Jahr ein beschauliches Ende.
Am anderen Morgen brachten die Buben in selbstgebastelten Laternen das geweihte Feuer nach Hause. Das Anzünden des Herdes war eine feierliche Angelegenheit, zu der sich die ganze Familie versammelte. Man sang ein Osterlied und anschließend betete der Engel Michel aus einem alten Weihebuch die Segnung des Herdfeuers.
Bereits am Gründonnerstag hatten die Mädchen alle Weihwassergefäße des Hauses gesäubert. Nachdem das Feuer im Herd wieder fröhlich brannte, gingen sie von Zimmer zu Zimmer um die Behälter neu zu füllen. „Das ihr mir das aber jetzt auch jeden Samstag macht“, brummte der Engel Michel aus seinem Lehnstuhl. „Dann kann es auch nicht mehr vorkommen, dass die Behälter Staub ansetzen“, rief er der Lissy mit den dicken schwarzen Zöpfen nach, die seinem Herzen am nächsten stand.
Am Ostermorgen war die Lissy schon lange vor Anbruch des Tages wach. Sie hatte bereits den Ostertisch geschmückt und dazu das beste Geschirr aus dem Schrank geholt. Nach dem Auferstehungsgottesdienst würde sich die Familie hier versammeln. Sie hatte eine Vase mit frischen Blumen aufgestellt und das Bild des Auferstandenen aufgehängt. Eine große Osterkerze, die alles andere überragte, stand mitten auf dem Tisch, der mit bunt gefärbten Eiern - zum Färben hatte Lizzy Rotkraut, Zwiebelschalen und Spinat verwendet - dekoriert war. Die gefärbten Eier hatte Lizzy noch mit einer Speckschwarte abgerieben und auf Hochglanz poliert.
Als der alte Engel Michel, sich auf seinen Stock stützend, in die Stube gehumpelt kam, stand die Lizzy, selbst schon blitzblank gekleidet und sehr zufrieden mit sich und der Welt, vor ihrem Werk. „Ich wünsche dir einen glückseligen heiligen Tag und ein fröhliches Halleluja“, lautete der Ostergruß, mit dem der Engel Michel sein Enkelkind begrüßte. Schon bald hatte sich die ganze Familie um den Ostertisch versammelt und jeder, der die Stube betrat, wurde mit dem traditionellen Gruß empfangen.
Es war immer noch dunkel als der Engel Michel und seine Nachkommenschaft in Erinnerung an die Frauen, die am Ostersonntag in aller Frühe hinaus zum Grab ihres Herrn geeilt waren, zum Kirchgang aufbrachen. In einem großen Weidekorb trug die Lizzy die Speisen, die in der Kirche geweiht werden sollten. Am Ende der langen Fastenzeit, in der es kein Fleisch und keine Eier gegeben hatte, sollte das erste Fleisch und der, mit vielen guten Eiern gebackene Osterkranz vor dem Verzehr gesegnet werden.
Die Kirche war nur vom Schein der Osterkerze auf dem Altar erleuchtet. An ihr brachten die Messdiener ihre Kerzen zum Brennen und gaben das Licht weiter an die Gläubigen, von denen jeder eine Kerze bereit hielt. Langsam verbreitet sich das Licht, die Kirche wurde heller und heller bis alles in leuchtendem Glanz erstrahlte. „Wie ein Licht in dunkler Nacht dringt sie hinaus, die Botschaft von der Menschenliebe Gottes. Immer stärker, immer heftiger, bis sie am Ende alles überstrahlt“, dachte der Engel Michel bei sich.
Nach dem Kirchgang traf sich die Familie an dem schön geschmückten Tisch in der Wohnstube. Ganz unten auf der Tafel stand der gewaltige, braunglänzende Osterkranz, in der Mitte des Tisches ein Lamm, aus frischer Butter modelliert und mit Honig übergossen und am anderen Ende, vor dem Platz des Engel Michel, lag ein riesiger Schinken. Es war das Vorrecht des alten Mannes, den Osterschinken anzuschneiden. Alle bekamen von dem ‚Geweihten’ zu essen.
So feierten sie das höchste Fest des Christentums und am Abend saß der Engel Michel wieder einmal im Kreis seiner Lieben und erzählte seine Geschichten, während er die Meerschaumpfeife von einem Mundwinkel in den anderen schob.
„Einmal hielt die alte Eiche oben am Hochstein Gericht“ begann er zu erzählen. „Sie suchte den Schuldigen, der seine Ranken für die Dornenkrone des Heilands hergegeben hatte. Einen nach dem anderen untersuchte die weise alte Eiche. Zu dem zitternden Wildröschen sagte sie: ’Du kannst es nicht gewesen sein, du hast viel zu kleine und feine Dornen.’ Am Ende blieben nur der Kreuzdorn und die Schlehe übrig, die sich dem Urteil der alten Eiche stellen mussten. Da trat der Kreuzdorn vor und erklärte, er hätte sich ja schon längst gemeldet, wenn er nicht auf die Schlehe hätte aufpassen müssen, die zu entkommen drohte.. ‚Denn sie war es, die den Soldaten des Pontius Pilatus bereitwillig ihre Zweige anbot’ beschuldigte der Kreuzdorn die Schlehe. Als diese mit feinem, dünnen Stimmchen ihre Unschuld beteuerte, hörte ihr längst niemand mehr zu.
Die anderen Bäume und Sträucher verjagten die Schlehe aus dem Wald und da saß sie nun, mit hängenden Ästen auf dem felsigen Hang oben an der Burg und weinte“, erklärte der Engel Michel den staunenden Kindern. „Aber der Herr Jesus, der hat alles wieder gerade gerückt. Als er von der Ungerechtigkeit erfuhr, da tröstete er die Schlehe und schenkte ihr unendlich viele kleine, zarte weiße Blüten. Darum ist sie auch bis heute der einzige Waldstrauch, der in der Karwoche blühen darf.   
Den Kreuzdorn aber, den suchte Jesus ebenfalls auf. Strafend hat er ihn angeschaut. Und von diesem Moment an trug der verleumderische Busch seine Äste kreuzweise. Und jetzt wisst ihr alle, warum das so ist“, beendete der alte, weise Engel Michel seine Erzählung.