„Da es von alters her gesetzmäßig
festgelegt und vorgesehen ist, dass Eltern ihre Kinder zu treuen Diensten in
den Tempel des Herrn geben, so wird uns dadurch ein heilsames Beispiel, was
wir mit unseren Kindern zu tun haben, gezeigt. Es ist nicht mehr als billig,
dass wir unserem Schöpfer auch von unserer Frucht geben. Deshalb will ich
diesen unseren Sohn namens Otfried, der die Opfergabe und die Biturkunde in
der Hand hält und dessen Hand in die Altarpalla gewickelt ist, im Namen des
heiligen Benedict und im Beisein des Priors vor Zeugen hiermit übergeben,
dass er der Regel gemäß hierbleibe. Er darf also von diesem Tag an seinen
Nacken nicht mehr dem Joch der Regel entziehen, noch durch irgendeine Weise
durch mein Zutun irgendeine Gelegenheit zum Ausritt erhalten. Und damit
dieses mein Ansuchen endgültig ist, habe ich es durch eigene Unterschrift
bekräftigt“, liest der Mönch im Namen des vor ihm stehenden leibeigenen
Bauern den Vertrag mit lauter Stimme vor.
„Mal dein Kreuz hier auf diese Stelle,
Mann“, befiehlt er anschließend und schwerfällig macht der Hörige mit
der Tinte das Zeichen der Schreibunkundigen unter das, was der Mönch soeben
verlesen hat. Als Zeugen unterschreiben der Pförtner und der
Ordenspriester.
„Und nun nehmt Abschied“, sagt der Prior
aufmunternd und wendet sich zum Ausgang, damit Vater und Sohn noch einmal
alleine sein können, bevor sie sich für immer verabschieden müssen. Der
Bauer legt dem Jungen, der schweigend und mit scheuen Augen die fremdartige
Umgebung gemustert hat, tröstend die Hand auf den Kopf und streichelt zärtlich
den dunklen Lockenschopf. “Als Mönch wirst du frei sein, denn nur die
Kirche nimmt das Joch der Hörigkeit von deinem Nacken. Sieh zu, dass Du es
weiter bringst, als bis zum Pförtner, obwohl du auch auf diesem Posten
nicht hungern würdest!“
„Wenn ich nur das Schreiben fertig
bringe“, seufzt der Knabe. „Sonst möchte ich schon Pfarrer oder Bischof
werden“, sagt er.
Die Abendglocke reist Otfried aus seinen
Gedanken. Während er so vor sich hin träumte hat sich ein großer
Tintenklecks auf dem Pergament breit gemacht. Der erinnert Otfried an die
Klosterschule und an den strengen Scholsticus Bruder Gangolf, der solche
Vergehen nicht durchgehen ließ. Zu kostbar ist das weiße geglättete
Pergament, und wer es leichtsinnig verdirbt, der büßt mit seinem Rücken.
Erbarmungslos ließ Bruder Gangolf den Stock darauf tanzen. Dunkel erinnert
sich Otfried jetzt an den Vater, diesen wunderbaren Menschen, der ihn ins
Kloster gebracht hatte, damit das Joch der Hörigkeit von ihm genommen
werde. Er hat ihn nie wieder gesehen, diesen einfachen elsässischen Bauern,
der ihn mit Tränen in den Augen verlassen hatte.Noch heute zieht sich sein Herz traurig zusammen, wann immer er, derhoch angesehene Mönch, an den Vater denkt. Und Otfried erinnert sich
oft der schweren, abgearbeiteten Hände, die ihn so liebevoll zu streicheln
wussten.
Er schiebt das Blatt mit dem Tintenklecks und
damit auch seine Gedanken zur Seite, nimmt einen von den neuen Federkielen,
die der kleine Scholar für ihn hergerichtet hat und widmet sich wieder
seinem Evangelienbuch. Es ist sein Lebenswerk und er schreibt wie besessen
über das Leben Christi, zum ersten Mal in der Geschichte der Christenheit
in deutscher Sprache.„Bisher
war dieses Thema dem Lateinischen, Griechischen und Hebräischen
vorbehalten“, sagt Bruder Immanuel, der soeben die Bibliothek betritt und
Otfried wie gewohnt bei der Arbeit antrifft. „Wer versteht diese
Edelzungen schon in unserem deutschen Land?“ fragt Otfried. „Sicher, das
sind die Sprachen der Bibel, aber hat der Herr uns nicht aufgetragen, seine
Botschaft in alle Welt zu tragen? Wenn sie jeder verstehen soll, dann dürfen
wir nicht darauf warten, bis die elsässischen Bauern das Latein erlernt
haben“, sagt er nachdenklich.„Das
Deutsche ist roh, undiszipliniert und durch den Zügel der grammatischen
Kunst nicht zu bändigen“, sagt Bruder Immanuel und setzt sich an seinen
eigenen kleinen Schreibtisch um mit der Abschrift des Johannesevangeliums,
natürlich in lateinischer Sprache, fortzufahren. „Es ist eine fast nicht
zu lösende Aufgabe, dieses Werk in der deutschen Sprache zu verfassen, aber
diese dann noch in den von dir so geliebten Endreim zu zwängen, das halte
ich bei dieser absolut ungezügelten Sprache fürein völlig unmögliches Unterfangen“, sagte Immanuel. Der Dichterfürst
des Weißenburger Klosters wird zornig, da Bruder Immanuel ihn für unfähig
zu halten scheint. „Eine grässliche Vorstellung diesen Text in Stabreimen
abzufassen. Wenngleich ich zugeben muss, dass ich meine liebe Mühe habe,
das doch wesentlich eingängigere Versmaß auf das Fränkische
anzuwenden“, sagt er. „Aber ich bitte Euch, lieber Bruder Immanuel, Ihr
könnt doch von mir nicht erwarten, dass ich im Stabreim dichte“, sagte er
lachend.
„Findest Du für alle lateinischen Begriffe
entsprechende fränkische Bezeichnungen?“ will Bruder Immanuel wissen.
„Ich behelfe mich, wenn ich nichts entsprechendes finde, denke ich mir ein
neues Wort aus oder übernehme einfach das lateinische“, lacht Otfried.
Er ist müde geworden. Das Dämmerlich reicht
nicht mehr aus für die feine Schreibarbeiten. Auch Bruder Immanuel hat
seinen Federkiel auf die Seite gelegt und ist dabei, die Bibliothek zu
verlassen. Otfriedgreift zu
einem großen Pergament, auf dem ein Kreis mit merkwürdigen Mustern
aufgezeichnet ist. Es ist das christliche Labyrinth, mit dem sich der
Dichterfürst des Weißenburger Klosters seit geraumer Zeit beschäftigt.
Zwar war der aus dem ursprünglich kretisch-heidnischen Labyrinth
entstandene Irrgarten schon lange in der christlichen Kirche aufgenommen,
doch Otfried hat das Labyrinth von sieben auf elf erweitert und in Kreisform
gebracht. „Zehn Gebote – zwölf Apostel“, murmelt er und versucht, die
Wege so anzulegen, dass alle gewundenen Wege automatisch zum Mittelpunkt führen.
Dieser steht für Christus, die Erlösung.
„Die Elf, das ist die Zahl des Unglücks,
der Sünde und der Schwäche, sie muss von den heiligen Zahlen zehn und zwölfeingerahmt sein“, erklärt Otfried einem unsichtbaren Beobachter.
Mit der schwarzen Kohle schabt er über das Papier. Der gewundene Weg zum
Mittelpunktsoll das Leben mit
all seinen Höhen und Tiefen symbolisieren. „Der Eingang müsste im Westen
liegen“, entscheidet Otfried sich für die Himmelsrichtung die für den
Abend und das Jüngste Gericht steht. Nun gilt es, vom Eingang zum
Mittelpunkt einen Weg auszutüfteln, der anders als beim Irrgarten keine
Sackgasse aufweist.„Wer
eintritt, soll automatisch zum Zentrum, der Erlösung kommen.Wenn der Mensch das Labyrinth entlang schreitet, wird er sich seiner
Sünden bewusst“ erkläutert der Mönch, doch es ist niemand da, der ihm
zuhört. Aber das stört ihn nicht weiter. Er will Umwege einbauen, die den
Besucher immer wieder nur fast bis zur Mitte führen. Er malt und schabt,
fasst glaubt er sich am Ziel, doch so wie er den Besucher führen will, der
sich hinter der nächsten Biegung wieder vom Zentrum, dem er sich schon so
nahe glaubte, entfernen muss, so merkt auch Otfried, das dieses perfekte
Gebilde, das er in allen Einzelheiten vor sich zu sehen glaubt, nicht ohne
Überwindung größerer Schwierigkeiten auf Papier zu bannen ist.
Inzwischen ist es dunkel geworden und Otfried
ist erschöpft über seinen Zeichnungen eingeschlafen. Ist es ein Traum oder
ist es Wirklichkeit? Er sah einen großen, rechteckigen Stein am Fuße der mächtigen
Dahner Burg, die er auf seinen Reisen oft gesehen hatte, liegen. Aus dem
Stein entstand ein merkwürdiges Gebäude mit riesigern Glasfenstern.
Kinderlachen war zu hören. Dann war alle still. Im Traum wanderte Otfried
durch lange, buntgestrichene Flure. Hinter den einzelnen Türen hörte er
Stimmen. In hellen, lichten Räumen saßen unzählige Schüler, merkwürdig
gekleidete Männer und Frauen schienen sie zu unterrichten. Da hörte
Otfried seinen Namen fallen:„Otfried
von Weißenburg, der geboren wurde als man Karl den Großen zum Kaiser krönte,
errang zwar keine weltpolitischen Erfolge, aber seine Leistungen überdauerten
im Gegensatz zu den Taten vieler Mächtigen die Zeit. Der Benediktinermönch
Otfried von Weißenburg , revolutionierte die deutsche Dichtung
grundlegend“, sagte der Mann in der merkwürdigen Jacke, der vorne an der
Tafel stand.
Als Otfried erwachte, war der neue Tag längst
angebrochen. Er vergaß den Traum, der ihm, ohne dass es ihm bewusst war,
einen Blick in eine in weiter Ferne liegende Zukunft gestattet hatte.
Anhang: In der Gewanne
Kreuzstein entstand 1955 das Gebäude des Otfried-von-Weißenburg-Gymnasiums,
das heute im danebenliegenden Schulzentrum untergebracht ist.Mit dem Namen wollte man auf die Zugehörigkeit des Dahner Tals zur
Abtei Weißenburg im Mittelalter hinweisen.