Das Rumbacher Schneckchen
Im Rumbacher Park lebte einmal eine kleine Weinbergschnecke, die wollte den lieben Gott sehen. Der Großvater hatte ihr erzählt, das Gott oben in dem großen mächtigen Kirchturm wohne, den man von dem Platz, an dem die kleine Schnecke zuhause war, sehr gut sehen konnte.
Die kleine Schnecke wollte nicht länger klein und mickrig sein, sie wünschte sich von ganzem Herzen, so groß zu sein, wie die Menschenkinder, die tagsüber in den Park zum Spielen kamen. Die waren so groß, dass sie nie Gefahr liefen von einem unachtsamen Fuß zertreten zu werden. Als der Großvater eines Tages von einem seiner Ausflüge nicht zurückkehrte, da weinte die kleine Schnecke bittere Tränen. Das war nicht gerecht, dass Gott die einen so groß und die anderen so klein gemacht hatte. So klein, dass sie immer Gefahr liefen, von den Großen übersehen und zertreten zu werden. Das Schneckchen beschloss, zum lieben Gott zu gehen und ihn zu bitten, es genau so groß und stark zu machen wie die Menschenkinder. Denn der Großvater hatte immer gesagt, dass Gott so mächtig sei, dass er alles könne.
Und es machte sich auf den Weg. Auf der Schotterstraße wurde es von einem Bulldog überholt, dessen riesiges Rad nur ganz knapp an dem kleinen Schneckenhaus vorbeirollte. Es dauert einen ganzen Tag, bis die kleine Schnecke das Ende des Weges erreicht hatte, 38 Fahrräder hatten bis zu diesem Zeitpunkt an ihm vorbeigezogen, darunter waren auch diese ganz schnellen Rennräder, deren Fahrer für nichts anderes Augen hatten, als für das Ziel, das irgendwo in weiter Ferne zu liegen schien. Doch das Schneckchen kroch unbeirrt weiter und zog sich am Abend, als der Mond schon aufgegangen war, in sein kleines Haus zurück um zu übernachten.
Am anderen Tag musste es die Hauptstraße überqueren. Tapfer machte es sich auf den Weg, ungeachtet der Traktoren, Lastwagen, Sattelschlepper, Motorräder und Autos, die seinen Weg kreuzten. Tapfer biss es die Zähne zusammen, denn sein Ziel war der liebe Gott, der dort oben in der großen Kirche über dem Dorf wohnte. Da war sich das kleine Schneckchen ganz sicher.
Nachdem die kleine Schnecke die Straße überquert hatte, wurde vieles einfacher, denn nun ging der Weg durch die Gärten hinter den Häusern. Nach einigen Tagen kam es am alten Dorfbrunnen wieder auf die Straße. Von hier konnte es den Kirchturm in seiner ganzen Größe sehen und als es hinauf blickte bis zur Turmspitze, da schien es geblendet, denn die Sonne stand genau hinter dem Kirchturm. Doch das konnte das kleine Schneckchen natürlich nicht wissen und darum war es sicher, dass es auf dem richtigen Weg war. Denn solch ein Licht und solch einen Glanz, das könne doch nur der liebe Gott sein, dachte sich das Schneckchen.
So machte es sich wieder auf den Weg, dabei kam ihm ein Trupp Wanderer entgegen, und das kleine Schneckchen zählte 47 Füße und es war sich anschließend nicht mehr ganz sicher, ob es richtig gezählt hatte. Gegen Abend sausten drei Kinderfahrräder den Bürgersteig herunter, fünf Skateboards und zwei Paar Rollschuhe. Doch das Schneckchen blieb unbeirrt auf seinem Weg, immer den Kirchturm vor Augen.
Eines Morgens erreichte es das untere Ende der mächtigen Treppe, die hinauf führte zu Gott. Der Gottesdienst sollte bald beginnen und viele Leute schritten die hohe Treppe hinauf zu der alten Kirche, zu der sie der mächtige Klang der Glocke rief. Das Schneckchen hatte die Glocke noch nie aus dieser Nähe rufen gehört und plötzlich war sich das kleine Ding ganz sicher, dass dieser laute, mächtige Ton nur die Stimme Gottes sein könne. 
Kaum hatte es die ersten Treppenstufen erklommen, da kamen ihm die vielen Menschen auch schon wieder entgegen. Keiner von ihnen bemerkte das kleine Schneckchen, das sich ganz eng an die Mauer gedrückt die Treppe hocharbeitete.
Es war schon lange dunkel, als die kleine Schnecke das obere Ende der Treppe endlich erreichte. Doch es war ihm nicht möglich, nur noch einen Schritt weiterzugehen. Müde ließ sie sich ins Gras rollen und schlief unter einem duftenden Rosenstock ein.
Ganz früh am morgen erwachte es wieder. Sein kleines Herz klopfte voll Vorfreude, weil es bald Gott sehen durfte und schon bald würde es auch so groß und mächtig sein wie die Menschen. Doch die Tür war verschlossen und das Schneckchen musste lange warten bis endlich die alte Kirchendienerin herbeigeschlurft kam und die Kirche öffnete, die im Sommer den Feriengästen zur Besichtigung offen stand. Als die Alte die Türe aufgeschlossen hatte, huschte das kleine Schneckchen so schnell es nur konnte in den kleinen dunklen Vorraum, voller Angst, die Alte könne es im letzten Moment bemerken und wieder hinauswerfen ins Gras, wo es nach ihrer Meinung sicher besser aufgehoben wäre.
Die Morgensonne tauchte das alte Kirchenschiff in ein helles, gleißendes Licht, doch das Schneckchen hatte nur Augen für den Altar und das große Kreuz. So schnell es ihm möglich war, eilte es nach vorne, wobei es sich immer auf den kühlen Fließen bewegte und es vermied, dem roten Teppich zu nahe zu kommen.
Endlich, endlich war es geschafft. Die kleine Schnecke stand unten an den Stufen und blickte mit großen Augen zu dem Herrn am Kreuz. Sein kleines Herz drohte zu zerreisen. Diese Menschen hatten den lieben Gott an ein Kreuz genagelt und ihm eine Dornenkrone aufgesetzt. Blut lief ihm aus der Seite. Da zerbrach das kleine Herz des Schneckchens vor lauter Kummer. „Gott ist doch nicht mächtiger als die Menschen, die uns so viel Pein verursachten“, dachte das dumme, kleine Tier bevor sein Herzchen aufhörte zu schlagen.
Nur Sekunden später stand es einem großen Mann gegenüber, der ihm direkt in die Augen blickte. Das Schneckchen verstand die Welt nicht mehr. War es jetzt so groß wie dieser Mann oder war der Mann auf Schneckengröße zusammengeschrumpft? Das Schneckchen erkannte ihn wieder: Es war der gleiche Mann, den es am Kreuz hatte hängen sehen, doch jetzt trug ein weißes langes Gewand, dass heller als die Sonne strahlte.
„Mein großes, tapferes Schneckchen.  ... und du hast den Weg trotzdem zu mir geschafft. Dein Vertrauen soll belohnt werden, komm mit mir ins Paradies“, sagte er und das Schneckchen wusste kaum, wie ihm geschah.
Als der Pfarrer am nächsten Sonntag seine Kirche betrat um Gottesdienst zu halten, da fand er vor dem Alter ein kleines Schneckenhäuschen, das schillerte in den hübschesten Farben, geradeso wie ein Regenbogen. „Na so was“, sagte der Pfarrer und steckte das Schneckenhäuschen in die tiefen Taschen seines Talars. Zuhause im Pfarrhaus stellte er das Häuschen auf seinen Schreibtisch und freute sich an dem fröhlichen Farbenspiel. Woher sollte er auch wissen, dass die kleine Schnecke jetzt ganz nah bei Gott war, so groß, wie sie es sich immer gewünscht hatte. 120 Autos, 60 Motorräder, 200 Fußgänger, 20 Traktoren, zehn Fuhrwerke, 75 Fahrräder und 15 Paar Rollschuhe, nichts hatte es aufhalten können, bei seiner Suche nach Gott.