Die Vier
Da saßen sie in dem kleinen Cafe gegenüber des Alten Rathauses von Dahn mit Blick auf die altehrwürdige St. Laurentiuskirche: Drei in die Jahre gekommene Damen, die in ihrer Jugend unzertrennlich schienen und die sich dann, nach dem Abitur, ganze vierzig Jahre nicht mehr gesehen hatten.
 
Susanne, die immer friedfertige Susanne, die jedem Streit aus dem Weg gegangen war, jeden Konflikt so lange beleuchtet hatte, bis es keinen Konflikt mehr zu geben schien und die am Ende, um wieder einmal  einen heftigen Wortwechsel zu vermeiden, einen Mann geheiratet hatte, den ihre Eltern ihr ausgesucht hatten, statt der Stimme ihres Herzens zu folgen. Den Frieden hatte sie sich erhalten, doch sie hatte die Liebe verloren, war kinderlos geblieben und am Ende war ihr auch das Vertrauen in die Menschheit abhanden gekommen. Wer kann noch vertrauen, wenn er bei Vater und Mutter nicht zu Hause sein kann? So schwand am Ende auch ihre Hoffung, dass das Leben eines Tages doch noch ein wenig Glück für sie bereit halten würde. Sie, die Friedfertige, fand keinen Frieden mehr, haderte mit Gott und bekam keine Antwort auf ihre ewige Frage nach dem Warum.
 
Lotta, die vertrauensselige Lotta, hatte einem Mann vertraut, ihm ihre ganze Liebe geschenkt und ihm ein Kind geboren. Das Kind war gestorben, doch Lotta vertraute weiterhin, setzte auf den Mann und das Leben mit ihm. Dann war er gegangen, mit all ihrem Geld und einer Jüngeren. Hatte sie zurückgelassen ohne Liebe und ohne Hoffnung und so verlor sie am Ende auch das Vertrauen in das Leben.
 
Marianne, die liebevolle Marianne, hatte die Liebe ihres Lebens geheiratet, doch nur wenige gemeinsame Jahre waren den beiden vergönnt. Ohne ihren Mann und seine Liebe konnte sie keinen Frieden mehr finden. Der einzige Sohn studierte in Australien und blieb nach dem Abschluss in dem fremden Land. Marianne verlor den Sinn ihres Lebens, verlor das Vertrauen, den Frieden und am Ende sogar die Liebe für sich selbst.
 
Müde schauten sie sich an, keine wollte etwas sagen, alle warteten auf die Vierte im Bunde: Lisa.
Als sie endlich das kleine Café betrat, schien die Sonne aufzugehen. Lisa, die stets hoffnungsvolle Lisa, war noch immer rothaarig, auch wenn sie die Farbe inzwischen ihrem Friseur verdankte. Sie war geschminkt, sportlich gekleidet und mit leichten federnden Schritten trat sie an den Tisch der Freundinnen. Lisa füllte den Raum und sie gab den anderen das Vertrauen, sich öffnen zu können. So erzählten sie sich ihre Geschichten. Lisa war so voller Fröhlichkeit, dass sich die Freundinnen dem nicht entziehen konnten. Ihr Lachen wirkte ansteckend und schon nach kurzer Zeit saßen sie schwatzend und kichernd zusammen, ganz so wie damals in ihrer Jugendzeit.
Susanne wurde ganz ruhig, Lisas Frohsinn brachte ihr den Frieden zurück, der ihr vor langer Zeit verloren schien. „Alles, was geschieht, hat einen tieferen Sinn, man wächst an den Aufgaben, die wir in unserem Leben zu meistern haben“, sagte Lisa. 
Lotta schien es, als könne sie wieder Vertrauen fassen in das Leben, das noch vor ihr lag. „Vertrauen hat nichts mit Vertrauensseligkeit zu. Gott meint es gut mit dir, auch wenn er dir kein sattes, materiell reiches und gefahrloses Leben eingerichtet hat“, sagte Lisa.
Marianne verstand plötzlich, dass man die Liebe nicht verlieren kann wie einen alten Hut. „Die Liebe ist eine Quelle, die strömt und nie versiegt. Nur manchmal ist sie ein wenig verstopft – dann liegt es an uns, den Pfropfen zu lösen“, sagte Lisa.
Es war schon Abend geworden als Susanne plötzlich fragte, wie es denn Lisa ergangen sei, in all den Jahren. Lisas Traum, eine Doktorin zu werden, hatte sich erfüllt, doch eine böse Hautallergie hatte sie gezwungen, ihre wissenschaftlichen Arbeiten im Labor aufzugeben. Lisa haderte nicht mit dem Schicksal, wurde Dozentin und gab ihr Wissen angehenden Wissenschaftlern weiter. Mit ihrer Jugendliebe, Schwarm aller Mädchen, war sie vor dem Traualtar gestanden, doch nach wenigen Jahren fesselte eine unheilbare Rückenmarkserkrankung ihren Mann an den Rollstuhl. Lisa verlor ihre Liebe nicht, denn trotz der schweren Krankheit war er der liebevolle, geistreiche und witzige Mann geblieben, den sie geheiratet hatte. Ihre beiden Söhne verunglückten an einem Heiligen Abend auf dem Weg zu den Eltern tödlich. Lisa verlor das Vertrauen in Gott und das Leben nicht. „Ihre Zeit war gekommen. Warum? Das liegt in Gottes Hand“, sagte sie.
Lisa die hoffnungsvolle Lisa, hatte sich mit der Hoffnung den Frieden, das Vertrauen und die Liebe bewahrt.