Es kommt auf den Blickwinkel an
 
 
Wir hatten einen kleinen Hund bei uns Daheim, in dem so ziemlich alle Rassen dieser Welt vertreten waren. Es war ein strubbeliger Geselle und beim besten Willen keine Schönheit, aber klug war er und sehr, sehr mutig.
Am Morgen holte er für meinen Großvater die Zeitung, die in dem Briefschlitz in der Eingangtür steckte, am Abend schleppte er für den alten Herrn die  Hausschuhe herbei. Er gehorchte aufs Wort, was ihm eine Freiheit verschaffte, von der andere Hunde nur träumen können. Er durfte den Großvater überall hin begleiten, ja selbst beim Stammtisch fehlte der kleine Kerl mit den eingeknickten Ohren nie.
Wenn Großvater ihn irgendwo ablegte, konnte nichts auf der Welt ihn bewegen, diesen Platz wieder zu verlassen, bis sein Herr ihn wieder abholen kam.
Als die Bulldogge vom Nachbarn eines Tages unseren altersschwachen Kater erwischte und ihm den Garaus machen wollte, da stürzte sich unser Hund todesmutig auf den riesigen Angreifer und rettete dem Kater das Leben.
Wir sahen weder seine abgeknickten Ohren,  noch sein struppiges Fell. Wir sahen nur seine wunderschönen Augen, aus der alle Liebe strahlte, die so ein Tier für seinen Herrn wohl aufbringen kann.
Als eines Tages unsere feine Tante aus der Stadt zu Besuch kam, da führte sie uns die ganze Hässlichkeit unseres kleinen Freundes vor Augen. Angeekelt drehte sie ihr Gesicht weg und fragte den Großvater, wie er es dulden könne, dass sich solch ein hässlicher Straßenköter in seinem Haus breit mache.
„Du findest ihn hässlich?“, fragte mein Großvater. Ich finde ihn wunderschön, denn all das, was du hässlich nennst, bewundern wir an ihm“, sagte er. 
„Ja, es kommt eben immer auf den Blickwinkel an, aus dem man eine Sache zu beurteilen in der Lage ist“, meinte meine Mutter.
Ob meine feine Tante etwas begriffen hat, weiß ich nicht, wir Kinder aber hatte unsere Lektion gelernt.
Mit lieben Grüßen
 
Ihr Wasgaustreicher